: Das politisches Erbe Deng Xiaopings verschwimmt
■ Der kleine Steuermann ist an seinem ersten Todestag schlicht der „Freund“ aller Chinesen
Peking (taz) – Heute abend um Punkt 21.08 Uhr, exakt ein Jahr nach dem Tod von Deng Xiaoping, erhalten die Chinesen erstmals Einlaß in die privaten Gemächer ihres langjährigen Herrschers. Am Fernsehbildschirm sind sie eingeladen, einen 90minütigen Dokumentarfilm über das Privatleben Dengs zu folgen – Teil der offiziellen Propaganda, die den kleinen Steuermann nicht als Gott oder großen Vorsitzenden, sondern schlicht als „Freund“ aller Chinesen preist.
Am ersten Todestag des neben Mao einflußreichsten chinesischen Politikers des Jahrhunderts halten sich die politischen Elogen in Grenzen. Zwar rief das Parteiblatt Renmin Ribao (Volkszeitung) auf, sich zum ersten Todestag des KP- Führers auf „das große Banner der Deng-Theorie zu konzentrieren“. Doch nicht einmal die Zeitung führt aus, was darunter genau zu verstehen sei. Schließlich war Deng Pragmatiker. „Die beste Art des Gedenkens ist, dem Aufruf des 15. Parteitages zu folgen“, heißt das für Renmin Ribao.
Bemerkenswert ist das Familientagebuch der 57jährigen Tochter des Patriarchen, Deng Lin, das gestern auszugsweise in der Pekinger Jugendzeitung erschien. Es dokumentiert die Leiden des Vaters während der Kulturrevolution, als er der „den kapitalistischen Weg gehende zweite Parteichef“ war. Deng Lin erinnert sich: „Meine Eltern standen nebeneinander in der Mitte des Hofs, ringsherum waren Massen, die laut schrien, Fäuste schwenkten und meine Eltern zwangen, den Kopf zu senken und Körper zu verbeugen.“ Explizit bezieht sich das Tagebuch auch auf die Studentenproteste vom Früjahr 1989, die Deng blutig niederschlagen ließ. Der Vater hätte damals im intimsten Kreis bemerkt, daß die Studenten zwar „Nieder mit Deng Xiaoping“, aber nicht „Nieder mit den Reformen“ gerufen hätten. Das hätte ihn in seiner politischen Haltung bestärkt.
Auffällig ist, daß wo immer Deng derzeit erwähnt wird – ob als Großvater, Kung-Fu-Fan oder früh geschiedener Mann in zweiter Ehe –, sein politisches Erbe verschwimmt. Geschickt vermeiden es seine Nachfolger, der uncharismatische Parteichef Jiang Zemin und sein ungeliebter Regierungschef Li Peng, allzu keck in die Fußstapfen des Verstorbenen zu treten. Die meisten Chinesen empfänden das ohnehin als anmaßend.
Unklarer wird, warum Deng überhaupt so hohes Ansehen genoß. Wer weiß schon noch, daß Deng einst Abertausende Mao- Denkmäler abreißen ließ. Auch mit der Erinnerung an die von Mao initiierte Kulturrevolution nimmt man es selten so genau wie in dem Tagebuch Deng Lins. So lassen sich die kommunistischen Kontrahenten Mao und Deng als ein- und dieselbe erfolgreiche Parteigeschichte darstellen. Neuerdings kann man Feuerzeuge mit Mao- und Deng-Porträt im Set kaufen.
Undeutlicher ist heute auch Dengs Bild im Westen. Schließlich starb er, ohne daß etwas passierte. Alle Prophezeiungen über ein schlimmes Ende der Deng-Ära, über Erschütterungen des politischen Generationswechsels, sind bisher nicht wahrgeworden. Mit anderen Worten: Peking war aus westlicher Sicht noch nie so verläßlich wie heute. Das aber ist eine Illusion. Man wird wohl noch warten müssen, um einzusehen, daß der kleine Steuermann mehr war als ein Freund und Platzhalter. Trotz aller Rückschläge war er zwei Jahrzehnte lang Garant für Stabilität und Entwicklung. Die nächste Krise kommt bestimmt. Georg Blume
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