Fluchtwege aus der babylonischen Gefangenschaft

■ Nur eine kleine kleine jüdische Minderheit harrt noch im Irak aus, der Rest lebt längst in Israel

Jerusalem (taz) – Sollte Saddam Hussein doch noch Scud-Raketen auf Tel Aviv abfeuern, dann könnte er im Tel Aviver Vorort Ramat Gan auch ehemalige Landsleute treffen. 40 Prozent der dortigen Einwohner sind irakische Juden. Die meisten von ihnen kamen in den Jahren 1949 bis 1951. Noch einmal 5.000 erreichten Israel nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967. In den vergangenen fünf Jahren gelang nur noch 75 von ihnen die Flucht aus der „babylonischen Gefangenschaft“, von denen wiederum nur 20 in Israel blieben, darunter die 25jährige Vera Cohen und ihr 71jähriger Vater Naddam.

Die beiden erzielten eine gewisse Berühmtheit in Israel, als sie im vergangenen Jahr vor einem Knesset-Ausschuß die Umstände ihrer abenteuerlichen Flucht darlegten. Offiziell wurde wenig mehr bekannt, als daß Vera ihr Diplom als Physiotherapeutin an die irakischen Behörden zurückgeben mußte. Kontaktpersonen, Schmiergeldzahlungen und Reiseroute blieben geheim. Damit würde nur die Aufmerksamkeit der irakischen Behörden geweckt, meint Mordechai Ben Porat, Leiter des israelischen „Zentrums für das Erbe der babylonischen Juden“. Viel Aufmerksamkeit gibt es allerdings nicht mehr zu erwecken. Denn ganze 61 Juden leben, nach Angaben des Zentrums, derzeit noch in der irakischen Hauptstadt. Und die seien inzwischen mit Saddam Hussein ganz zufrieden, weil dieser sich von der guten Behandlung einer machtlosen Minderheit propagandistische Vorteile verspreche.

Doch in den Jahren zuvor konnte von Vorzugsbehandlung keine Rede sein. Ein erster Fluchtversuch der Familie Cohen im Jahr 1973 endete fatal. Mutter Cohen und ein Sohn schafften es bis ins Flugzeug und konnten das Land verlassen. Der Rest der Familie wurde vom Geheimdienst geschnappt. Ein Jahr Gefängnis für Vater Naddam und Einzug des Vermögens waren die Folge sowie die Trennung der Familie.

Nicht immer blieb es bei solchen für irakische Verhältnisse glimpflichen Strafen. Nach israelischen Angaben wurden in den Folgejahren im Irak 14 Juden öffentlich gehängt und 53 ermordet. Doch vor allem die alltägliche Diskriminierung und die Furcht vor Entführung und Vergewaltigung, die, wie Vera einräumt, auch muslimische Frauen bedrohe, waren für sie ein zentrales Fluchtmotiv.

Dabei hätte Saddam Hussein durchaus Grund gehabt, Milde gegenüber jüdischen Flüchtlingen zu üben. Nach Angaben von Mordechai Ben Porat verdankt er die bloße Tatsache seiner Geburt zu einem nicht unwesentlichen Teil der Fürsorge der jüdischen Gemeinde in Bagdad. Als Saddam Husseins Mutter Probleme bei der Schwangerschaft bekam und Ärzte ihr zur Abtreibung des Kindes rieten, reiste sie von heimatlichen Takrit zur Behandlung in die irakische Hauptstadt. Aufgrund der relativ guten Beziehung ihrer Familie zur jüdischen Gemeinde in Takrit wurde sie bei jüdischen Bekannten in Bagdad untergebracht. Und gebar einen gesunden Sohn.

Die jüdische Gemeinde in Bagdad, die praktisch seit der babylonischen Gefangenschaft vor 2.500 Jahren ohne Unterbrechung existiert hat, steht vor einer fragwürdigen Zukunft. Im Gegensatz zu ihren Brüdern und Schwestern in Ramat Gan ist sie allerdings nicht der Gefahr einer Bombardierung ausgesetzt. Wie im Golfkrieg von 1991 ist auf den Karten der Alliierten auch diesmal das jüdische Stadtviertel von Bagdad eingezeichnet. Und damit tabu. Georg Baltissen