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: Die Fähigkeit zurückzublicken

■ Normierungen und Deformierungen: Literarische Erinnerungen an die „seeligen Jahre der Züchtigung“ in der Schule

Heinrich Spoerls Pennäler- Roman „Die Feuerzangenbowle“, der durch die Verfilmung mit Heinz Rühmann sprichwörtliche Berühmtheit erlangte, endet mit den Worten: „Wahr sind auch die Erinnerungen, die wir mit uns tragen: die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden.“ Das ist ein reichlich fauler Schluß, weil er all die bösen Erinnerungen und Alpträume, die Schule und autoritäre Erziehung uns angetan haben und antun, rhetorisch wegblendet.

Es ist natürlich kein Zufall, daß Spoerls idyllisch-verklärendes Schulmärchen aus den 30er Jahren ein literarischer Einzelgänger blieb; wenn Literatur sich mit Schule befaßte, und sie tat es häufig und tut es noch immer, dann zumeist in Auseinandersetzung mit den Normierungen und Deformierungen, für die das System Schule verantwortlich ist.

Die Schattenseiten in der Geschichte der Pädagogik sind dokumentarisch nirgends schlagender aufgearbeitet worden als in Katharina Rutschkys Standardwerk „Schwarze Pädagogik – Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung“, das jetzt als Taschenbuch vorliegt. „Unaufhörlich erneuert Erziehung den für alle so wohltätigen Wahn, man könnte immer wieder von vorn anfangen“, heißt es im Vorwort. „Die Siegeszuversicht des Erziehers verdankt sich seiner Unfähigkeit zurückzublicken.“

Diese Unfähigkeit ist es, gegen die ernstzunehmende literarische Umsetzungen des Themas Schule anschreiben – ist doch Literatur, wo sie gelingt, genau dies: die Fähigkeit zurückzublicken. Die irrationale Macht und der sadistische Zynismus vieler Erzieher, der nicht nur zu Spoerls Zeiten weit eher auf dem Stundenplan stand als verständnissinniges Schmunzeln zu Streichen der Lümmel von den letzten Bänken, wird im Roman „Junge Leute“ des Naturalisten Johannes Schlaf (1862–1941) drastisch und eindrucksvoll geschildert. Das erst postum erschienene Buch beschreibt die Entwicklung dreier aufsässiger Abiturienten im Kaiserreich. Die Glaubwürdigkeit des Romans besteht darin, daß die rebellischen Impulse sehr schnell von einem glatten Anpassertum abgelöst werden. Gelernt ist eben gelernt.

„Dauer der Lektüre: etwa vier Stunden. Dauer der Erinnerung, auch an die Autorin: der Rest des Lebens.“ So enthusiastisch urteilte kein Geringerer als Joseph Brodsky über die Novelle „Die seligen Jahre der Züchtigung“ der Schweizerin Fleur Jaeggy. Schauplatz der Geschichte ist ein Appenzeller Mädchenpensionat in den fünfziger Jahren, ein Ort, an dem Mädchen unter schikanösen Bedingungen zu den sogenannten bürgerlichen Tugenden Sauberkeit, Disziplin, Ordnung abgerichtet werden. Zugleich ist das Buch eine subtile Studie über eine lesbische Liebe mit pathologischen Zügen: Unterwerfung und Lust, Disziplin und Erotik vermischen sich zu einem masochistischen Wahnsystem.

„Die Fähigkeit zurückzublicken“ könnte auch als Motto über Michael Köhlmeiers Roman „Die Musterschüler“ stehen. Es geht um die Aufdeckung einer alten Schuld und offenen Rechnung: Vor 25 Jahren haben Schüler eines Internats einen Mitschüler zusammengeschlagen, der als Außenseiter galt. Das Buch ist nicht nur deshalb lesenswert, weil es die Machtstrukturen in einem Internat analysiert; Köhlmeier hat auch erzähltechnisch etwas zu bieten: Der Roman ist streng dialogisch gebaut, die alte Geschichte wird aus verschiedenen Blickwinkeln mündlich erzählt und bekommt dadurch eine fesselnde Unmittelbarkeit.

Schließlich noch ein Kriminalroman aus der Schweiz. Ulrich Knellwolfs „Klassentreffen“ hat mit der nostalgischen Gemütlichkeit, die solche Treffen oft auszudünsten pflegen, nichts gemein. Die Schulkameraden von einst, die 1933 Abitur machten, empören sich über einen von ihnen, der sich den Nazis anschloß. Aber die Empörung entpuppt sich sukzessive als Heuchelei – eine saubere Weste hat von den alten Kameraden keiner. Der kleine Roman ist somit ein Beitrag zur Diskussion über die Rolle der Schweiz während der Naziherrschaft. Vielleicht schärft er die Schweizer Fähigkeit zurückzublicken. Klaus Modick

Katharina Rutschky (Hg.), „Schwarze Pädagogik“, Ullstein TB; Johannes Schlaf, „Junge Leute“, Roman, Ullstein TB; Fleur Jaeggy, „Die seligen Jahre der Züchtigung“, Novelle, Serie Piper; Michael Köhlmeier, „Die Musterschüler“, Roman, Serie Piper; Ulrich Knellwolf, „Klassentreffen“, Kriminalroman, Fischer TB