Die Jahre der großen Furcht

Welchen Zweck hatte der „Große Terror“? Warum hatte er in den Jahren 1937–1938 seinen Höhepunkt? War Stalin Bestandteil oder Beweger der Mordmaschine? Ein Workshop des Hamburger Instituts für Sozialforschung präsentierte neue Dokumente  ■ Von Christian Semler

Letztes Wochenende wurde das Hamburger Institut für Sozialforschung ein weiteres Mal seinem Ruf gerecht, Bausteine zur Erklärung der Nacht- und Schreckensgeschichte unseres Jahrhunderts aufeinanderzuschichten. Es lud unter der Federführung Reinhard Müllers Wissenschaftler aus Rußland ein, um gemeinsam mit deutschen Kollegen neue Forschungsergebisse zum Komplex Massenrepressalien in der Sowjetunion der 30er Jahre zu sichten. Die Veranstaltung trug den Namen Workshop zu Recht. Wer einen Schaukampf theoretischer Matadoren erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die große Auseinandersetzung zwischen denen, die den Stalinismus als soziale Lebensform begreifen, und denen, die den Terror als Grundelement der totalitären Staats- und Gesellschaftsform in den Mittelpunkt der Analyse stellen, sie unterblieb für dieses Mal. Vielleicht ist nicht zuletzt deshalb der Ertag dieses Wochenendseminars bedeutsam.

Es wurde klar, daß wir erst jetzt, nach dem Aktenstudium fast eines Jahrzehnts, mit Genauigkeit darüber sprechen können, wie das Mahlwerk des Todes „von innen“ aus gesehen funktionierte. Wichtige Dokumente wurden erstmals präsentiert, gängige Klischees verabschiedet. Jenseits der Mythen, so der Moskauer Hostoriker Arseni Roginski, ragen allerdings neue Gebirge auf. Ungeklärte Fragen, darunter die einfachste, die am schwerten zu beantworten ist: Warum? Warum das Massaker, dem auf dem Höhepunkt des Terrors 1937 bis 1938 über eine Million Menschen zum Opfer fielen?

Proportional zum Fortschritt der historischen Erkenntnis sinkt allerdings in der russischen Öffentlichkeit das Interese an ihren Ergebnissen. Für die Jungen sind die Jahre des Großen Terrors schon weit entfernte Geschichte, sie sind übergegangen aus dem Gedächtnis der Generationen ins Gedächtnis der Archive – und dort sind sie bisweilen zu gut aufgehoben. Es besteht die Tendenz, das gesamte Archivwesen zu zentralisieren, den Zugang zu einer Reihe von Archiven, insbesondere für „westliche“ Forscher, immer mehr zu erschweren und ganze Bestände, darunter den Fonds Stalin, zu sekretieren – als Staatsgeheimnis. Da bedarf es schon eines unternehmenden Geistes, einer gefüllten Brieftasche und präziser Geländekenntnis, um den richtigen Weg bis zum siebten Kreis der Hölle zu finden.

Was waren nach Arseni Roginski die Hauptlegenden, die sich mit den beiden Jahren des Großen Terrors 1937 und 1938 verbunden hatten? Sie wären die Ultima ratio eines Systems gewesen, das sich in eine tiefe Krise manövriert hatte. Tatsächlich folgte der Terror auf eine ökonomische und politische Stabilisierung. Sie hätten hauptsächlich die Eliten betroffen, die „alten Bolschewiken“. Tatsächlich ergriff der Terror nicht nur den Funktionärsbestand der Partei. Er dehnte sich auf ganze soziale Gruppen wie die der ehemaligen Kulaken aus, um schließlich auch ausländische Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion zu verschlingen. Hatte er wenigstens im Kern ökonomische Gründe? Die den Terror vollzogen, sahen es anders. Sonst hätten sie kaum Massenerschießungen den Vorzug gegeben. Schließlich die Rolle Stalins. Im letzten Jahrzehnt war nach Roginski in der Forschung viel Gewicht auf den Nachweis gelegt worden, daß Stalin selbst eher Bestandteil eines objektiven Krisenzusammenhangs gewesen denn der große Beweger der Mordmaschine. Aber die Akten belegen eindeutig, daß er es war, der der Repression 1937 bis 1938 bis ins einzelne plante.

Die neuen, auf dem Workshop vorgestellten Erkenntnisse kreisen um die politischen Entscheidungsprozesse, die zum Großen Terror führten, um das Verhältnis der Parteiführung zu den „Organen“, um die bürokratische Struktur und die Arbeitsmethoden des NKWD. Der Umkreis der analysierten Dokumente reicht weit über amtliche Schriftstücke hinaus. Er umgreift auch die Briefe, die die Moskauer Allgewaltigen mit ihren zur Kur am Schwarzen Meer weilenden Kollegen wechselten – der reguläre Telefonverkehr mit dem Süden wurde erst in der zweiten Hälfte der 30er Jahre etabliert. Es schält sich jetzt heraus, wie es zur „Objektivierung“ der Feindbilder kam, wie der konkrete Bezug zum Handeln, zur wirklichen Lebensgeschichte der NKWD-Opfer systematisch gekappt wurde.

In seiner Analyse des NKWD- Befehls 00477 von 1937 legte Nikita Petrow, Mitglied der Moskauer Memorial-Gruppe, dar, daß die zur Vernichtung bzw. zur Zwangsarbeit vorgesehenen Gruppen allesamt mit einer untilgbaren Klasseneigenschaft, ihrer vormaligen Existenz als Kulaken, behaftet waren. Gleiches traf auch auf ehemalige Mitglieder rivalisierender linker Gruppierungen zu, erst recht auf ehemalige Kriminelle und deren Familien.

Diese Kategorisierung machte es der sowjetischen Führung und dem NKWD möglich, erstmals in der Geschichte den Gebietskörperschaften Kontingente zu Erschießender bzw. zur Zwangsarbeit zu Verurteilender zuzuweisen. Ganz wie bei der Planerfüllung oblag es den regionalen und örtlichen Dienststellen, alle Mittel einzusetzen, um Vollzug melden zu können. Alexander Watlin von der Moskauer Lomonossow-Universität schilderte, wie das NKWD „vor Ort“ selbst Kursanten mobilisierte und Studenten im dritten Jahr als Untersuchungsrichter einsetzte. Denn für den Abschluß eines Falles war im Plan ein Tag vorgesehen. Dieser Termindruck, die ganze Aktion mittels Befehl 00477 sollte ursprünglich in drei Monaten abgeschlossen sein, führte in einigen Regionen zu panikhaften Reaktionen des NKWD. In Turkmenistan wurde am Markttag der Marktplatz abgesperrt, und alle Besucher wurden verhaftet, um das Plansoll zu erfüllen. In nur ganz wenigen Fällen verlief der Prozeß umgekehrt. Der NKWD-Chef Jakutiens meldete, sein Territorium sei für sozialgefährliche Elemente aller Art einfach zu uninteressant, weil zu unterentwickelt. Die Verfolgungsrate blieb dort null.

Die Massenabfertigung, die Verfolgung mit immer dünneren Akten war nur möglich, weil eine grundlegende Verschiebung eingesetzt hatte: von der Verfolgung von Sabotageakten, wo es ja immerhin noch um einen konkreten Sachverhalt, den Schaden gegangen war, zur Spionage. Einen ähnlichen Perspektivwechsel analysierte der Berliner Wissenschaftler Wladislaw Hedeler in einem aufsehenerregenden Beitrag, der den großen Moskauer Schauprozessen gewidmet war. Erstmalig untersuchte Hedeler die Geschichte des Dreh- und Musterbuchs, das der NKWD-Chef Jeschow für die großen Moskauer Schauprozesse entworfen hatte. Einem dringenden Wunsch Stalins folgend, beschloß er, den bereits verhafteten Altbolschewiken und Linksoppositionellen Sinowjew nachträglich in das Komplott zu verwickeln, das zur Ermordung des Leningrader Parteichefs Kirow im Jahre 1934 geführt hatte. Dieses – frei erfundene – Mordkomplott mußte dann konsequenterweise in einem Komplott zur Ermordung Stalins münden. Anstelle der moralischen und politischen Verantwortlichkeit der Täter trat der direkte Mordbefehl.

In seinen Weisungen gegen den Generalstaatsanwalt Wyschinski forderte Stalin dann, die verbrecherischen Aktionen der Angeklagten zurückzuverfolgen bis in die Zarenzeit. Sie mußten jetzt Agenten nicht nur der westlichen Geheimdienste, sondern auch noch des Zaren gewesen sein. Die letzten Spuren ihre realen Geschichte wurden, wie Hedeler nachwies, schließlich aus dem offiziellen Protokoll der Prozesse getilgt. Wie im Fall der Ex-Kulaken kommt es, so der Historiker Gerd Koenen auf dem Workshop, zu einer „Ontologisierung“ des Feindes. Die Nähe solcher Fixierungen zur nazistischen Feinddefinition ist schwer zu übersehen.

Friedrich Fiersow und Reinhard Müller, dem wir schon eine einschlägige Publikation zu Herbert Wehner verdanken, beschäftigten sich mit der Terrorwelle innerhalb der Kommunistischen Internationale und der wenig rühmlichen Rolle, die der vormalige Held des Reichstagsbrand-Prozesses, Dimitroff, bei diesem Drama des Verrats und der Feigheit spielte. Das Tagebuch Dimitroffs erweist sich als erstrangige Quelle. Seinen Eintragungen zufolge wußte der Schriftsteller Feuchtwanger, der einen Hymnus auf Stalin und den zweiten Moskauer Prozeß von 1937 verfaßt hatte, genau, was gespielt wurde.

Also doch keine Naivität, sondern ein intellektuelles Opfer, erbracht auf dem Altar der Utopie. Womit wir bei einem Problemkreis angelangt wären, der schmerzhaft ist. Jenseits der distanzierenden Rede vom Stalinismus, jenseits voreiliger Abwehrreaktionen muß, auch im Milieu der deutschen Linken, eine Haltung treten, die sich erst einmal vorbehaltlos den Fakten stellt. Eine Lektüreempfehlung fürs „Schwarzbuch“.