■ Demokratie unter Druck (1): Der demokratische Konsens wird aufgrund von Wiedervereinigung und Zuwanderung in Frage gestellt
: Der Geschmack der Freiheit

Alles neu macht der Herbst. Ist Helmut Kohl erst einmal von einer rot-grünen Regierung abgelöst, wird die Erstarrung von uns abfallen, werden wir mit zukunftsfrohem Optimismus die Ärmel hochkrempeln. Schön wär's. Natürlich wird sich mit einem Regierungswechsel nichts Grundsätzliches verändern. Die engen Verteilungsspielräume bleiben, und die Internationalisierung der Produktion wird auch in Zukunft Druck auf das Lohnniveau ausüben.

Enttäuschung und Resignation werden weiter wachsen, wenn es erst mal ein Kanzler der SPD ist, der neue Arbeitslosenrekorde verkünden muß – und eine baldige Umkehr der Entwicklung verspricht. Wann also ist der Punkt erreicht, an dem „Politikverdrossenheit“ in „Demokratieverdrossenheit“ umschlägt? Eine akademische Frage, mag mancher meinen. Immerhin sind drei Viertel der Altbundesbürger davon überzeugt, daß „die Demokratie die beste aller Staatsformen ist“. So viel Zustimmung war nie.

Andererseits formieren sich längst Kräfte, die die demokratischen Ordnung grundsätzlicher ablehnen. Ein Optimist, wer glaubt, die völkischen Straßenbanden des Ostens, die bereits ganze Regionen und Städte dominieren, seien lediglich ein unappetitliches Randphänomen, das unsere Demokratie mühelos aushalten wird. Auch die „Bitte kein Feindbild Islam“-Fraktion macht sich etwas vor, wenn sie die Islamisierung eines Teils der Jugendlichen türkischer Herkunft schönredet. Und nicht zuletzt die wachsende Attraktivität von Sekten wie Scientology läßt den Schluß zu, daß die eigentliche Bewährungsprobe der Demokratie noch bevorsteht.

Schauen wir kurz zurück, um den Blick für die anstehenden Herausforderungen zu schärfen. Dreißig lange Jahre brauchten die Westdeutschen, bis sie sich von der alten „deutschen Idee“ einer homogenen Volksgemeinschaft verabschiedeten und die offene Gesellschaft mehrheitlich akzeptierten. Ein steiniger Weg war es, der zudem von den Schirmherren des Demokratieprozesses, den Westalliierten, in aller Freundschaft freigeräumt wurde. Ebenso erleichterte das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger und sechziger Jahre den (West-)Deutschen die Einsicht: Demokratie schmeckt nicht nur besser als Volksgemeinschaft, sie rechnet sich sogar. Dieses trefflich vorbereitete Feld wurde nach 1968 dann endlich bestellt, Demokratie wirklich praktiziert. Mitbestimmungsmodelle in Betrieben, in den Universitäten und an den Schulen, mehr Bürgernähe der Verwaltungen, der Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen in Bundeswehr und Polizeien, erhöhter Legitimationsdruck der gewählten Volksvertreter, all das ist Ausdruck eines gewandelten staatsbürgerlichen Bewußtseins.

Aber die Demokratisierung der Gesellschaft und des Alltagslebens ist kein linear vorwärtsschreitender Prozeß. Das mußte die 68er Generation, die fest an eine weitere Demokratisierung glaubte, im Verlauf der siebziger Jahre ebenso zur Kenntnis nehmen wie die Alternativbewegung in den Achtzigern. In den neunziger Jahren nun geht es nicht mehr um Stagnation. Der Bundesrepublik droht der Verlust an Toleranz, Liberalität im Bewußtsein der Menschen. Und gleichzeitig eine Erosion der Institutionen verfaßter Demokratie. Dieser Rückschritt hat viele Väter, zum Beispiel schlichte demographische Entwicklungen.

Seit 1990 erhöhte sich die Einwohnerzahl Deutschlands aufgrund der Wiedervereinigung und der Zuwanderung aus dem Osten und Süden Europas von rund 60 auf über 80 Millionen. Das sind 20 Millionen Menschen, die wenig Möglichkeiten hatten, die Spielregeln einer offenen, pluralistischen Gesellschaft einzustudieren. In der Regel wurden sie von einem antidemokratischen und häufig antiwestlichen Umfeld geprägt. Entsprechend anfällig für autoritäre Gesellschaftsvorstellungen ist diese Bevölkerungsgruppe. In den fünf neuen Bundesländern zum Beispiel sind bislang nicht viel mehr als ein Drittel der Menschen davon überzeugt, daß die Demokratie die beste der denkbaren Gesellschaftsordnungen ist. Über die Einstellungen der Einwanderer zu demokratischen Werten wissen wir bislang sehr wenig.

Natürlich verbietet es sich, sie unter den Generalverdacht der Demokratieferne zu stellen. Denn der Mensch ist lernfähig. Klar ist allerdings auch, daß die Bedingungen, sie in den demokratischen Konsens mit einzubeziehen, sich dramatisch verschlechtert haben. Anders als die Westdeutschen in den goldenen 60er und 70er Jahren machen die Ostdeutschen heute eine ganz andere Erfahrung: daß Demokratie bitter schmeckt, sie ein Zuschußgeschäft zu sein scheint. Warum also sollten sie sich für so abstrakte Werte wie Liberalität, Toleranz und individuelle Freiheitsrechte begeistern? Ähnliches gilt für Zuwanderer, die häufig in den sozialen Niederungen einen anstrengenden Überlebenskampf auszutragen haben. Hier zählen zivilgesellschaftliche Regeln nur eingeschränkt. Und wie sollen Menschen, die aus dem Kreis der Staatsbürger ausgeschlossen bleiben, für Demokratie begeistert werden?

Die Pluralisierung der Wertehindergründe hat Rückwirkungen auf den politischen Willensbildungsprozeß. Es entstehen soziale und ethnische Milieus mit eigenen Verhaltenskodizes, eigenen Gesetzen und eigenen Moralvorstellungen, die wiederum die Toleranzbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft herausfordern. Was kann und was will sie an Differenz hinnehmen? Gleichzeitig verliert die Gesellschaft dramatisch an wirtschaftlicher Integrationskraft.

Die Reaktionen der Gesellschaft auf diese Herausforderungen sind beunruhigend. Sie sieht keine Notwendigkeit einer den frühen siebziger Jahren vergleichbaren Demokratisierungsoffensive. Folglich ist sie auch nicht bereit, die ihr durchaus zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Integration – etwa im Staatsangehörigkeitsrecht, Arbeitsplatzoffensive, Neuorientierung der Schulen – wirklich zu nutzen. Und bei den herrschenden Eliten in Politik und Wirtschaft besteht eine deutliche Tendenz, demokratische Prozesse und Organe zugunsten höherer Effizienz zu „verschlanken“. Es wäre ihnen wohl am liebsten, wenn die Betroffenen resignieren und sich geräuschlos in ihre Milieus zurückziehen. Sie kündigen so nicht allein den bundesrepublikanischen Konsens der „Sozialpartnerschaft“ auf. Sie stellen damit die Legitimation demokratischer Meinungs- und Entscheidungsbildungen und letztlich die Demokratie selbst in Frage. Eberhard Seidel-Pielen