Hand aufs Herz

Im ganzen Gerangel um die Kanzlerkandidatur der SPD ist immer häufiger ein Argument zu hören, das Schröder-Anhänger ihrer Partei in wohlfeilster Absicht offerieren: Sollte die SPD wider Erwarten die Wahl im September doch verlieren, wäre die Partei bei einer Kandidatur Oskar Lafontaines doppelt getroffen.

Sie hätte dann nicht nur die Wahl, sondern aller Vorausicht nach auch den Parteivorsitzenden verloren. Denn der von Kohl zum zweiten Mal besiegte Oskar Lafontaine, so die Annahme, würde auch als Vorsitzender zurücktreten oder von der Stimmungslage in der Partei zum Rücktritt gezwungen werden. Dieses Risiko könne man doch unmöglich in Kauf nehmen wollen.

Je häufiger sie zu hören ist, um so mehr gewinnt diese Überlegung ein Eigenleben. Was passiert nach der Wahl? Eine Partei, die von ihrem Sieg fest überzeugt ist, denkt so nicht. Das Charakteristische an der herrschenden Generation in der SPD ist dieses Spiel mit doppeltem Boden: Wird es nichts in Bonn, bin ich Ministerpräsident in Hannover oder Saarbrücken.

Nach einer verlorenen Bundestagswahl käme der Rückzug in die Länder. Die 68er Genossen verschwinden von der Bonner Bühne. Das größte Problem für die SPD ist: Wer kommt dann?

Die Sozialdemokraten haben nicht nur das Pech, daß ihnen mit den Grünen eine immer ernstzunehmendere Konkurrenz in bestimmten, wichtigen Wählerschichten erwachsen ist. Die Grünen haben auch einen großen Teil des Personals der Generation, die jetzt zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt ist und sich früher für die SPD interessiert hätte, absorbiert. Mit anderen Worten, der SPD mangelt es nicht nur an Nachwuchs, ihr fehlen auch die Leute, aus denen sich die Führungsschicht nach dem Rückzug von Lafontaine, Schröder und Co. rekrutieren müßte. Zumindestens hat sich noch niemand jüngeres hervorgetan, der diese Lücke füllen könnte.

Damit wächst der Zwang zur Veränderung enorm. Der Programmpartei SPD droht nicht nur die inhaltliche, sondern auch die personelle Auszehrung. Das wird einer Entwicklung vorschub leisten, über die jetzt bereits heftig diskutiert wird: die Medialisierung der Politik.

Schon lange klagen viele SPD- Mitglieder, vor allem die aktiven, daß sie die Parolen ihrer Partei über die Medien mitgeteilt bekämen. Auch Parteitage, das war gerade in Hannover im letzten Dezember noch einmal zu besichtigen, haben längst nicht mehr die Funktion, den Kanzlerkandidaten der Partei festzulegen. Tatsächlich durfte in Hannover noch nicht einmal darüber diskutiert werden.

Gerhard Schröder gilt heute als modern, weil er sich, via Medien, direkt an die Bevölkerung wendet und seine Partei immer häufiger völlig ignoriert. Durch die Mitgliederschwäche der SPD wird dieser Politikstil wohl Schule machen, selbst wenn Schröder verliert.

Was kommt, ist die Veränderung von der Programmpartei hin zu einer eher angelsächsischen, auf Wahlen und Fund-raising orientierte Formation, die einzelne Kandidaten im Kampf um wichtige Ämter unterstützt. J.G.