Weite Watte

■ Fundstücke vom Ende der Welt: Lili Fischer und Georg Jappe mit „Polare Gestade“in der Städtischen Galerie

Nur Dummköpfe glauben, die Welt sei eine Kugel. In Wirklichkeit hat die Welt einen Rand. Nehmen wir nur Grönland, wo es uns nicht wegen der Kälte, sondern wegen des Nichts hinter den Eisbergen fröstelt. Oder Spitzbergen, wo mordende Eisbären den Rand markieren. Auch einen Steinwurf vom schleswigholsteinischen Festland entfernt, auf einer dieser Inselchen, die Hallige genannt werden, rückt das Weltende bei jeder Flut heran. In solch unwirtliche, gern als gottverlassen bezeichnete Gegenden zieht es immer wieder Herrn Jappe und Frau Fischer. Sie gehen niemals unbewaffnet.

Herr Jappe hat ein Fernglas, ein Tonbandgerät und eine Kamera. Frau Fischer hat eine Kamera und einen Zeichenblock. Manchmal nehmen sie einen Mann mit, der eine Flinte besitzt, wegen der Eisbären. Am Rand der Welt würde man sonst zu leicht überwältigt.

In der Städtischen Galerie im Buntentor gibt es jetzt eine Ausstellung, Titel „Polare Gestade“. Da kann man zwischen wehenden Aquarell-Eisbergchen umhergehen, Spitzbergischen Sand durch die Hand rieseln lassen, sich Vogelstimmen anhören oder das Geschrei eines Afrikaners, dessen Auto in einen Fluß gefallen ist. Man kann Steine betrachten, Aufzeichnungen in einem obscuren „Kriegstagebuch“studieren, man kann sich über vollgekritzelte Schreibtischunterlagen des Herrn Jappe wundern oder eine ältere Zeichnung von Frau Fischer namens „Erbsensuppe bei nahendem Gewitter“mit der Zeichnung eines Eisberges vergleichen. Es wird viel geboten.

Man kann sich auch vor eins dieser großformatigen Fotos stellen. Schwarze Wolken. Noch schwärzere Berge. Dunkles Wasser. Und darauf schweben Sahnehäubchen oder Wolken, aber es sind Eisberge. Man kann sich an diesen Eisbergfotos nicht sattsehen. Man kann sich auch erschlagen lassen von der schwarzen, menschenfeindlichen Einsamkeit von Spitzbergen. Manchmal sieht man winzige helle Flecken, das sind Dächer. Ganz unerwartet. Manchmal sieht man einen anderen hellen Fleck. Das ist eine Restsonne vor der schleswigholsteinischen Küste. Unfaßbar.

Was hat man verloren am Rand der Welt? Georg Jappe, Professor für Ästhetik in Hamburg, ist ein Vogelmann. Ein Ornithologe. Einer, der sich schon als Kind über die Sprache der Spatzen den Kopf zerbrach. Er war Vogelwart auf den Halligen, konserviert Vogelstimmen auf Band und hat die Ornithopoesie erfunden. Das ist die Umsetzung von Vogelstimmen in visuelle Poesie, in Gedichte zum Ansehen. Außerdem ist Herr Jappe einer, der sich ganz sublim für die Belange der Natur einsetzt, schon weil jeder Menschenabfall, der im Permafrost liegengelassen wird, dort immer liegen wird. Und weil auch am Ende der Welt Überfischung und Atomverseuchung eine Rolle spielen. Wer will, entdeckt in seinen Fotos Menschenspuren, die in dieser grandiosen Leere meist wie Schmutz wirken. Lili Fischer dagegen, die auch in Bremen bekannte Performance-Künstlerin, die in Münster einen Lehrstuhl für Freie Kunst und Performance innehat, sammelt am Ende der Welt Steine, Bilder und Kraft. Sie bezeichnet sich als „Feldforscherin“, frottiert wohl auch mal einen fossilen Pflanzenabdruck. Schon seit 1977 ziehen sie und Herr Jappe durch weite Watte und kalte Wüsten.

Auch das ist schön: Man kann sich etwas mit nach Hause nehmen aus der Ausstellung. Zum Beispiel für 25 Mark eine CD von Herrn Jappe, ein „Naturlautgedicht“aus Menschen- und Vogelstimmen (Herr Jappe: „Ich verstehe manchen Vogelstimme besser als Chinesisch“). Oder für 56 Mark ein großes schönes Künstlerbuch der beiden, darin Zeichnungen, Vogelpoesie – und vor allem die umwerfend gut gedruckten Fotos. Zum Sattsehen. BuS

Ausstellungseröffnung Samstag, 28.2.98, 19 Uhr, Wulf Herzogen-rath (Kunsthalle) führt ein; bis 29. März