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■ Phonetische Akzentverschiebung: Die WalkürologiePfingst'ochse und Bett'hase

Die Erforschung der Sprache zählt zu den wichtigsten Wissenschaften. Wir stellen hier eine neue Diziplin vor: Die Übersetzerin Kerstin Adam (33) und der Komparatist Martin Geiss (37) sind die Begründer der Walkürologie. Das ist eine neue sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung, die die Wirkung phonetischer Akzentverschiebungen analysiert.

taz: Wie fing alles an?

Martin Geiss: Spielerisch. Wir wollten typische Namen für Leute aus verschiedenen Ländern finden, wie Olga Wolga für die Russin oder Bulga Prst für die Bulgarin. Bei der Holländerin verfielen wir auf Leitplanke Verbeulen. Weil sich das schöner anhörte, haben wir den Akzent von der ersten auf die zweite Silbe verlegt: also Leit'planke. Das hörte sich an wie eine Walküre (Wal'küre).

Walküren, die germanischen Kampfjungfrauen?

Geiss: Genau, wir haben dabei an die Walküren aus Wagners „Ring des Nibelungen“ gedacht wie Brün'hilde, Grim'gerde, Schwert'leite, Roß'weiße usw. Das sind alles dreisilbige Frauennamen, die ein Kompositum darstellen, auf unbetontem -e enden und deren Wortakzent auf der zweiten Silbe liegt und auf -e enden. 'Leitplanke erfüllte all diese Kriterien und wurde deshalb unsere Ur- Walküre: Leit'planke. Normalerweise liegt der Akzent bei diesem Wort ja auf der ersten Silbe. Mensch, haben wir uns gesagt, es gibt bestimmt noch viel mehr Wörter, die man zu Walküren verwursten kann: 'Wuchtbrumme zu Wucht'brumme zum Beispiel. Wir waren wie angefixt. Am ersten Tag hatten wir schon ein Korpus von 300 Walküren angelegt.

Da gibt es sicher diverse Zweifelsfälle.

Geiss: Leider recht viele! Zum Beispiel die männlichen Walküren wie Lust'sklave oder Pfingst'ochse. Walküren sind ja eigentlich weiblich. Ist eine Walküre, die aus einem Präfix und einem Substantiv besteht wie Für'sprache oder Miß'ernte noch eine Voll-Walküre? Oder die Pluralformen, die qua definitionem keine Walküren sein dürfen: Aber wie steht's mit Weich'teile? Weich'teile wird ja nur im Plural benutzt.

Kerstin Adam: Oder nehmen wir die durch Bindestrich getrennten Walküren wie Schmidt- 'Schnauze oder Aids-'Schleife. Nicht zu reden von den englischen oder französischen Auslandswalküren, wo das Endungs-E stumm bleibt wie bei Off'shore, Cloche'merle, Lau'sanne oder auch Vip'lounge.

Da scheint aber noch reichlich Klärungsbedarf zu bestehen.

Adam: In der Tat. Die Walkürologie steckt ja noch in den Kinderschuhen. Zunächst hatten wir ein rein enzyklopädisch orientiertes Erkenntnisinteresse, was man auch als Sammelleidenschaft umschreiben könnte. Bis heute (15. Februar, d. Red.) haben wir ein Korpus von 2.820 Walküren angelegt. In Zukunft wollen wir einen onomasiologischen Ansatz verfolgen, um die Walküren zu typologisieren.

Onomasiologisch?

Adam: Das funktioniert wie bei einem Bildwörterbuch. Dabei gehen wir von Wirklichkeitsbereichen aus: also Tierwalküren (Sack'ratte), Musikwalküren (Block'flöte), Haushaltswalküren (Tisch'decke), Bürokratiewalküren (Amts'hilfe), Sexualwalküren (Bett'hase)...

Führt Ihr unbändiger Forscherdrang nicht zu einer gewissen Manie?

Geiss: Ja sicher. Vom walkürologischen Eifer gepackt, können wir kein dreisilbiges Wort mehr sehen, ohne die Betonung automatisch auf die zweite Silbe zu legen und zu hören, ob es als Walküre taugt. Dann zückt man mitten in einem ernsthaften Gespräch sein Notizbuch und schreibt die neue Walküre nieder. Wen das Walkürenfieber einmal gepackt hat...

...der kommt davon nicht mehr los?

Geiss: So ist es. Aber die Walkürologie eröffnet auch neue Sichtweisen auf unser Dasein durch die ihr aufoktroyierte phonetische Akzentverschiebung. Diese scheinbar kleine Akzentverschiebung von 'Keksdose zu Keks'dose macht doch klar auf die Ungereimtheiten des Lebens aufmerksam. Zudem beflügeln Walküren unsere Phantasie: Sie sind per se anthropomorph, haben also menschliche Gestalt. Wie stellen wir uns die Walküre Matsch'birne vor oder Hang'lage, wie Hupf'dohle oder Scham'röte?

Cui bono? Was will die Walkürologie bezwecken, wem soll sie dienen?

Geiss: Das Charmante an der Walkürologie ist ja gerade ihre vollkommene Zweckfreiheit. Sie will zu nichts führen. Die Walkürologie ist eine zutiefst fröhliche Wissenschaft, um mit Nietzsche zu sprechen. Jede neu gefundene Walküre ist für uns Forscher ein seelisches Laubhüttenfest.

Adam: Unser Anliegen besteht darin, dieses sprachliche Phänomen ins Bewußtsein der Menschen zu rücken, ihnen nahezubringen, daß wir im Leben ständig und überall von Walküren umgeben sind, ohne es bisher gemerkt zu haben!

Und wie geht es walküremäßig weiter?

Adam: Zur Zeit schreiben wir eine Einführung in die allgemeine Walkürologie. Damit wollen wir ins Internet gehen, um also unsere Disziplin einem größeren Publikum vorzustellen und das Korpus um weitere attraktive Walküren zu bereichern.

Apropos attraktiv. Haben Sie Lieblingswalküren?

Geiss: Oh ja! Trug'dolde, Quark'tasche und Voll'meise.

Adam: Ich mag Schmerz'grenze, Schwund'stufe, aber auch Piß'nelke. Das hängt wohl mit dem Erkenntnisglück zusammen, das ich empfunden habe, als ich auf sie gestoßen bin. Interview: Günter Ermlich

Wer sich für weitere Informationen über die Walkürologie interessiert, kann sich an diese E-Mail wenden: adam@univ-lill3.fr

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