Die Frauenfrage als Politikjoker

Geschlechterpolitik im islamischen Kulturraum. Eine genaue, jeden feministischen Essentialismus vermeidende Studie, zugleich ein Erklärungsversuch des „Islamismus“ in seiner politischen Funktion, vorgestellt  ■ Von Christa Wichterich

Ich weiß nicht, warum jeder, der an die Macht kommt, uns Frauen versucht vorzuschreiben, wie wir uns kleiden und verhalten sollen.“ Rahele macht Stadtteilarbeit in Kabul und kann das Haus nur in der Burka mit filigraner Vergitterung vor den Augen verlassen. Exakt die Frage, die sie kürzlich vor laufender ARD- Kamera formulierte, verfolgt Renate Kreile in ihrer Studie über die Entwicklung der Geschlechterpolitik im islamischen Kulturraum.

Kreile spannt einen monumentalen Bogen über die Jahrhunderte, vom mesopotamischen Königtum bis zu den Islamisten in Algerien. Es zeichnet sich ein Akteursviereck ab: Das Geschlechterverhältnis wird reguliert, ausgehandelt, verrechtlicht in einem Handlungsfeld zwischen dem Staat mit seinem Machtinteresse, der Religion mit ihren Kontrollansprüchen, den primären Solidargemeinschaften wie Familienverbänden, „Stämmen“ und ethnischen Minderheiten sowie den Frauen mit ihren Interessen an Handlungsräumen und Rechten.

Alle vier Akteure konkurrieren um Einfluß auf die Geschlechterordnung, wobei die drei Institutionen Staat, Religion und Familie männerdominiert sind. Kreile beschreibt die Geschichte dieser Konkurrenz: wie Frauenrechte und -chancen zum Spielball von Politik werden, wie sie eingeschränkt oder erweitert werden, wie Machtkämpfe wirklich verschleiert, nämlich unter den Schleier gesteckt werden.

Eine Struktur taucht in der Geschichte der Geschlechterpolitik häufig auf. Die Staaten sichern ihre Macht, indem sie die Selbständigkeit der primären Gemeinschaften schwächen. Gleichzeitig aber garantieren sie den Männern der traditionellen Sozialverbände als Ausgleich für ihre eigene Unterordnung unter den Staat die familiale Vorherrschaft über die Frauen. Ein Instrument dazu ist das Recht. So stärkt die Kodifizierung der Eigentumsverhältnisse die Verfügungsmacht der Männer und vereinheitlicht zugleich die Geschlechterordnung, die in den vorstaatlichen Gemeinschaften eher egalitär war.

Seit letztem Jahrhundert regieren die Staaten im islamischen Kulturraum massiver in die lokalen Gemeinschaften und religiösen Institutionen hinein. In Ägypten, der Türkei und im Iran wurde das Zivilrecht säkularisiert. Die „moderne“ entschleierte Frau sollte Symbol für den „modernen“ Staat sein. Frauen aus den städtischen Mittelschichten wurden Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten, sprich: Handlungsspielräume jenseits der familialen Kontrolle eröffnet. Die patriarchale Autorität in der Familie stellten die Staaten jedoch niemals in Frage.

Die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sieht Kreile zweigeteilt. Eine erste Phase, als die Staaten des Mittleren Ostens aufgrund ihrer immensen Erdöleinkünfte zu Rentierstaaten wurden, ist durch die Erweiterung von Bildung, Beschäftigung und Rechten für Frauen gekennzeichnet sowie durch eine aktive Frauenbewegung, die die fortdauernde männliche Herrschaft über Frauenkörper und -leben konsequent in Frage stellte.

Seit dem Ende des Erdölbooms werden Frauen jedoch wieder aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, und die Frauenfrage wird angesichts der moralischen und sozialen Desintegration politisiert. Der politische Islam, zuerst im Iran und jetzt in vielen Ländern, bietet sich als Lösung für die Krise des Staates und der Familie an. Wo die Gesellschaft aus den Fugen gerät und unkontrollierbar erscheint, verschärfen die Islamisten die Kontrolle über die Frauen als Kern für eine „islamische“ Neuordnung von innen heraus. Wieder einmal soll die „Moral“ der Frauen, sichtbar an der neuen Kleiderordnung, als Symbol für gesellschaftliche Identität herhalten. Kreile zeichnet nach, wie der algerische Staat in seiner Legitimationskrise die Frauenpolitik als „Krisenjoker“ ausspielt: Er versucht sich die Loyalität der Männer zu sichern und islamistische Kräfte zu kooptieren, indem er ihnen rechtlich ihre patriarchale Vormacht in der Familie garantiert.

Sowohl autonome als auch islamistische Frauengruppen versuchen an der männlichen Definitionsmacht, was „islamisch“ und „moralisch“ sein soll, zu rütteln und weibliche Lebenschancen zu erweitern. Kreile schätzt islamistische Gruppen als derzeit durchsetzungsfähiger ein als nichtreligiöse. Doch die patriarchalen Strukturen aufzuknacken ist angesichts der multiplen Krise aussichtslos...

Kreile schert die wechselhafte Geschichte der Geschlechterverhältnisse im arabischen Kulturraum nicht über einen orientalischen Kamm. Und sie folgt niemals einem platten Geschlechterdualismus, sondern legt eine differenzierte Dynamik von formaler Macht der Männer und informeller Macht der Frauen zugrunde. Wer von „der Stellung der Frauen im Islam“ redet, sitzt ihrer Meinung nach einem ahistorischen und essentialistischen Mißverständnis auf. Kreile ist ein Stück feministischer Staatstheorie für den Vorderen Orient gelungen, ein nützliches Instrument zum Verstehen aktueller Konflikte in den islamischen Gesellschaften.

Renate Kreile: „Politische Herrschaft, Geschlechterpolitik und Frauenmacht im Vorderen Orient. Centaurus Verlagsgesellschaft, 1997, 413 Seiten, DM 79