Makellose Blüten des Traums

Vom Paradies zum Police-Plattencover: Duane Michals ist Fotodichter, bekennender Schalk und ungläubiger Pfarrer. Die als Bildband bei Schirmer/Mosel veröffentlichte „Werkübersicht“ bringt jetzt die wichtigsten Sequenzen des US-Fotografen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Man kann die Mühe erkennen, mit der Duane Michals das deutsche Wort „Werkübersicht“ gekritzelt hat. Das Wort mußte unbedingt von seiner Hand stammen, weil Duane Michals eben nicht nur ein Fotograf ist, sondern auch ein schreibender Erzähler in der kleinen Form – den man an seiner Handschrift erkennt, wie Magritte oder Robert Crumb.

Man verfällt schnell auf die Parallele mit den Comics, wegen der Verbindung von Schrift und Wort, die Michals favorisiert. Falls er vom Kino gelernt hat, dann gewiß vom japanischen Meister Ozu: niedrige Kamera und sparsame Interieurs. Aber die Vergleiche taugen letztlich nur, um seine einzigartige Position in der Fotografie zu beschreiben. Von den frühen Porträts über die leichtfüßigen Sequenzen bizarrer Metamorphosen bis zum Album-Cover „Synchronicity“ für Police: Duane Michals ist ein Freigeist, ein Visionär, ein Philosoph des Alltags.

Weil die „Werkübersicht“ nicht chronologisch vorgeht, sieht man nicht sofort, daß der Kern des Werks zwischen 1968 und 1972 entstanden ist; was natürlich wichtig ist, denn Poesie zu Zeiten des Vietnamkriegs ist nicht dasselbe wie Poesie zu anderen Zeiten: Der Antrieb dieser Poesie ist Sehnsucht, und ihre Referenz ist die Sterblichkeit. Michals stellt universelle Fragen anhand einer leiblichen Choreographie. Dazu braucht er meistens nur zwei Darsteller und ein Zimmer. In einer Sequenz von sechs Bildern, entstanden 1968, porträtiert er ein junges, arriviertes Paar in einer weißgetünchten New Yorker Wohnung, wobei die beiden von Bild zu Bild ihre Kleidungsstücke verlieren. Das Mobiliar wird unterdessen Bild für Bild mit Topfpflanzen vertauscht: „Paradise Regained“ ist die Sequenz überschrieben, mit den typischen handgezeichneten Versalien.

Die gegenläufige Legende, nämlich vom Höllensturz, stammt aus demselben Jahr. Ein nackter Mann mit Flügeln nähert sich einer Schlafenden, weckt sie, küßt sie, ist im fünften Bild mit ihr vereinigt, sitzt im siebten Bild als Mann-im- Anzug auf dem Heizkörper – den Kopf in die Hand gestützt – und entfernt sich im letzten und achten Bild als gebeugte Figur mit schlechtem Gewissen; während die Frau in einer Geste der Hingabe, schlafend wiederum, zurückbleibt.

Der Raum für die Sequenz, die „The Fallen Angel“ heißt, ist förmlich geknetet vom natürlichen Gegen- und Seitenlicht. Die Körper changieren zwischen schwärzlichen Massen und perligen Volumen. Der szenische Clou sind die Flügel des Mannes: In den ersten vier Bildern sind sie in Bewegung, um die Immaterialität der Erscheinung herauszukehren; im Bild der geschlechtlichen Vereinigung liegen sie als planes Theaterrequisit auf seinem Rücken; im nächsten Bild sind sie verschwunden.

Darin liegt eigentlich nichts Mirakulöses. Es handelt sich um eine Idee, die man auch zeichnerisch protokollieren könnte, so wie Filmregisseure ihre Storyboards skizzieren. Die Kraft aber kommt aus der Physis der Körper, der Bewegung, den Details. Dabei wechselt Michals, um der Suggestion willen, auf die verdächtige weiche Seite der Fotografie – bewegte Figur, Doppelbelichtung des Negativs. Aber das Suggestive daran wird nur benutzt, um die Narration auszuschmücken. Die Idee allerdings bleibt transparent.

Man muß sehr genau hinsehen, um sie wirklich zu begreifen. Das Knifflige ist, wie Michals die Position von Beobachter und Akteuren überblendet, montiert und vertauscht. So zeigt das „Chance Meeting“ einen jungen Mann in der Rückenperspektive, der einem anderen Mann – Typ Professor – in einer typischen New Yorker Back Street (mit schwärzlich schimmernden Ziegelsteinwänden und schwebenden Feuerleitern) begegnet. Das erste Bild arbeitet mit der filmischen Suggestion der Rückenperspektive: Wir denken, wir seien der junge Mann. Daran ändert sich auch nichts, wenn er im Bild kleiner wird, und der narrative Effekt bleibt unverändert bis zum fünften Bild, wenn der Entgegenkommende, jetzt nah an der Kamera, sich umdreht. Das sechste Bild zeigt allerdings nur noch „unseren“ jungen Mann, der stehengeblieben ist und sich nun seinerseits umgewandt hat (Ende der Sequenz). Damit springt die Identifikation über auf die andere, ältere Figur, deren Blick wir plötzlich teilen. Mit seiner medialen Grammatik rekonstruiert der Fotograf das grandiose Theater des Traums.

Das „Chance Meeting“ kommt mit dem leichten Grusel des Film noir daher, aber meint die Begegnung zweier Männer beim Cruising. Die Geschichte gehört zu den ersten deutlichen schwulen Zeichen im Werk von Duane Michals. 1970 fotografiert, zeigt sie die Männer noch ohne die typischen Insignien der gay community. Wie die etwas spärlich geratene „Biographie“ der vorliegenden Werkübersicht darstellt, wurde Duane Michals 1932 als Sohn des Stahlarbeiters Michals und der Haushälterin Matik im Bundesstaat Pennsylvania geboren. In den ersten Jahren war er das Kind seiner tschechischen Großmutter. Er studiert ein bißchen Kunst in Denver, dient Mitte der fünfziger Jahre bei der U.S. Army in Deutschland; 1958 findet man ihn als Layouter bei Time Incorporated in New York. Der Sprung in die Metropole ist geschafft, just in dem Moment, wo die ersten Zeichen der Pop-art das kunstkritische Establishment verstören und Robert Franks „Die Amerikaner“ erscheint.

Duane Michals ist der Vorläufer der inszenierten Fotografie; Cindy Shermans Figuren der „Film Stills“ darf man als eine intelligente Ableitung aus Michals' narrativ standardisierten Charakteren betrachten. Wäre man nicht an Michals geschult, wären die choreographierten Alltagssituationen, die Sally Mann mit ihren Kindern stellt, gar nicht so leicht verständlich.

Dennoch kann man Michals' Werk auch von der dokumentarischen Seite her aufblättern. Es handelt sich um ein Kompendium New Yorker Orte, mit bulliger Badezimmerkeramik, einem stuckverzierten Kamin, eisernen U-Bahnhöfen und überstrahlten Straßenschluchten. Die Stile: Es gibt Typen in Lederjacken, Frauen in Rollpullis, schmale und weite Schlipse, Mini- und Midiröcke, Jeans und weiße T-Shirts. Die Accessoires, Gesichter und Frisuren sind zwar so gewählt, daß sie eine gewisse Archaik auf sich ziehen – und doch wird die Epoche auf eine Formel gebracht.

Bis weit in die siebziger Jahre gibt es rührende Sequenzen und mit lyrischen Texten komplementierte Bilder über Männer und Frauen. Dann werden die Ambientes aufgeräumter und die Männer schwuler. 1982 fotografiert er „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“. Der junge Mann, ganz Peinlichkeit, betritt nackt das Zimmer, in dem ein recht kahler Herr – Michals selbst – Zeitung liest. Der Herr entkleidet sich, der jüngere zieht die Sachen an. Im letzten Bild kommt es zu einer Umarmung, die so aussieht wie die Begegnung zweier Stiere. Auch in anderen Bild-/Textgruppen geht es um die Vermischung der Rolle des Vaters mit der des Liebhabers. Michals' unverlegene Gewißheit ist beeindruckend.

Das ganze Werk kreist um die Fragilität des Glücks und die Endlichkeit des Leibs. Insofern war der Fotodichter, den die Statistik als Gegenbeispiel eingetragen hat, auf das Sterben um sich herum vorbereitet. Eine Vierersequenz – jedes der Bilder unterlegt mit einem Buchstaben: A./I./D./S. – zeigt einen schnäuzertragenden Mann mit geschlossenen Augen, der seinen Kopf auf einem Glastisch niedergelegt hat; in den folgenden Bildern wird er mit zarten Blumen und Schleierkraut zugedeckt. Die enorme Wirkung liegt in der Spiegelung. Im ersten Bild spiegelt sich der Kopf wie ein Brancusi; im letzten Bild schwimmen die Blüten in der Spiegelung wie bei Monet. Die Sequenz heißt „A Dream of Flowers“. Michals zeigt sich in den achtziger Jahren als agnostischer Pfarrer, der den Verbliebenen mit sparsamen Gebärden von makelloser Schönheit Trost zu spenden weiß, noch immer in Schwarzweiß. Die „Werkübersicht“ in guter Druckqualität, vom Londoner Thames and Hudson Verlag übernommen, bringt die wichtigsten Sequenzen, Montagen und einige kommerzielle Arbeiten in Farbe, die leider auf Kosten der Dichte des Buchs gehen.

Für eine gedruckte Retrospektive ist ein 230-Seiten-Buch eigentlich zu schmal. Der Autor, Marco Livingstone, grast das Michals- Werk nach Themen ab: Botschaften, Magie und Illusion, Unschuld und Erfahrung, Politik etc. An Erkenntnis bringt die essayistische Ordnung aus zwei Gründen nicht viel. Erstens, weil die Kategorien nicht scharf genug entworfen sind. „Politik“ unterscheidet sich zwar von „Gott“, aber jede Sequenz unter „Gott“ könnte ebensogut unter „Seele“ abgeheftet werden. Zweitens, weil der Autor über den Hintergrund und die Nachbarschaft des Werks fast nichts, an Gemeinplätzen aber eine Menge zu bieten hat: „Wenn Michals eine prominente Persönlichkeit fotografieren soll, wird stets mehr daraus: das Bildnis eines menschlichen Wesens.“ Interessanter wäre gewesen zu wissen, woher und wie gut Michals zum Beispiel Andy Warhol kannte, als dieser noch ein menschliches Wesen war und kurz davor, prominent zu werden. (Beide teilen die tschechische Abstammung.)

Duane Michals begann seine fotografische Arbeit mit dem Porträt eines Jungen in Leningrad, 1958. Von vornherein war der Apparat unsichtbar. Es sieht so aus, als müsse man nur den Arm ausstrecken, um den Jungen zu berühren. Auf diese physische Nähe hat der Fotograf sein imaginatives Werk gebaut, eine Fusion von kauzigem Scherz und tiefer Einsicht. Sich selbst hat Duane Michals einmal „mit weiblichem Bart“ porträtiert, die Projektion des Unterleibs einer Frau auf das Gesicht des Künstlers mit fünfzig Jahren. Der Nabel sitzt ihm auf der Stirn und der Schalk in den Augen.

Duane Michals: „Werkübersicht“. Herausgeber: Marco Livingstone. Schirmer/Mosel Verlag, München, 232 Seiten, 128 DM