Ohne Tagesordnung und Leitung

Serie: Orte der Revolution (erste Folge). Wo heute das Tempodrom steht, übte das liberale Bürgertum in Volksversammlungen Anfang März 1848 die freie Rede und Demokratie  ■ Von Jürgen Karwelat

Der Name der Straße In den Zelten, nahe dem Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten ist, wie man sieht, auch heute noch zutreffend. Hier steht das Veranstaltungszelt Tempodrom, das wegen der Parlaments- und Regierungsbauten bald nach Kreuzberg umziehen muß.

Im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts standen hier kleinere und größere Bier- und Vergnügungszelte. Hier war das Wochenendvergnügen der armen BerlinerInnen. Der Straßenname „In den Zelten“ blieb auch dann erhalten, als die provisorischen Zelte durch massive Häuser ersetzt wurden. An diesem Ort fanden Anfang März 1848 große Volksversammlungen statt, in denen mehr oder weniger chaotisch miteinander und nebeneinander diskutiert wurde.

In der Versammlung am 7. März, an der mehrere hundert Menschen aus unterschiedlichen Klassen teilnahmen, wurde nach vierstündiger Diskussion schließlich eine „Adresse“ an den König beschlossen, in der folgende Forderungen aufstellt wurden: „1. Unbedingte Preßfreiheit, 2. vollständige Redefreiheit, 3. sofortige und vollständige Amnestie aller wegen politischer und Preßvergehen Verurteilten und Verfolgten, 4. freies Versammlungs- und Vereinigungsrecht, 5. gleiche politische Berechtigung aller, ohne Rücksicht auf religiöse Bekenntnisse oder Besitz, 6. Geschworenengerichte und Unabhängigkeit der Richter, 7. Verminderung des stehenden Heeres und Volksbewaffnung mit freier Wahl der Führer, 8. allgemeine deutsche Volksvertretung und 9. Einberufung des preußischen Landtages“.

Am 9. März fand die dritte Volksversammlung statt, zu der bei naßkaltem Wetter bereits drei- bis viertausend Personen erschienen. Nach langem Hin und Her kam die Versammlung überein, daß die am 7. März gefaßte Resolution zuerst der Stadtverordnetenversammlung übergeben werden solle. Falls diese ablehne, sollte die Resolution dem Monarchen selbst überreicht werden. 6.000 Berliner hatten unterzeichnet, als die Liste dem Stadtparlament übergeben wurde – das die Weitergabe verweigerte.

In der Zeltenversammlung am 13. März wurde dies heftig kritisiert. An diesem Montag, an dem die Gesellen zu „feiern“ gewohnt waren, kamen besonders viele Menschen in den Tiergarten. Darunter waren auffallend viele Handwerksmeister, -gesellen und -arbeiter. Als die Versammlung um 18 Uhr begann, bestand keine förmliche Leitung. Ohne Tagesordnung wurden die verschiedensten Themen angesprochen wie Probleme der Arbeit und des Handwerks, der Zölle und Steuern und die Entwicklungen in Frankreich.

Auch wurden Forderungen nach einem „ouvrier“ (Arbeiter) in der Regierung laut. Die Berliner übten sich in Demokratie und freiem Austausch der Meinungen. Die Chronisten schätzten die Zahl der TeilnehmerInnen an dieser politischen Massenveranstaltung auf zehn- bis dreißigtausend. Noch vor 20 Uhr löste sich die Versammlung auf, ohne daß ein konkreter Beschluß zur Überbringung der Forderungen an den König gefaßt worden wäre.

Die Menschen strömten unter Zischen, Pfeifen, Lärmen und Singen an der stark besetzten Wache durch das Brandenburger Tor. Überall in der Stadt waren auffallend viele Soldaten postiert. Kurz vor dem Schloß griffen Kürassiere, gepanzerte Reiter, die Menge mit gezücktem Säbel an. Es gab viele Verletzte. Ein junger Mann wurde erstochen. Die Provokation der Militärs trug wesentlich zur Schaffung einer explosiven Stimmung, zur Schaffung einer vorrevolutionären Stimmung bei.

Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) schrieb in sein Tagebuch zum 13. März: „...Auf dem Bankhofe stande eine Kompagnie Neuenburger Schützen, der Eingang des Hauses war inwendig besetzt, auf der Straße bewegten sich starke Reiterschaaren auf und ab. Man sagte, am Brandenburger Thor sei es wild hergegangen, es kam aber alles darauf hinaus, daß sich das Volk an den Truppen ergötzt, gejubelt und geschrieen habe. Die Volksversammlung bei den Zelten, bisher fünfmal erlaubt, wurde heute verboten als ungesetzlich; das war sie aber schon das erste Mal; die Leute fragen, warum hat man sie denn gestattet? wollte man uns eine Falle stellen? Fast scheint es so, die Behörden haben eine wahre Ungeduld, ihre Übermacht thatsächlich zu erhärten, man wünscht, es möchte nur erst zu blutigen Dingen gekommen sein.“

wird fortgesetzt