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Rollentorpedos

■ Streitbar: US-Autorin Leslie Feinberg liest heute aus ihrem neuen Roman

Zugegeben, der Titel ist eher abschreckend: „Träume in den erwachenden Morgen“. Doch wer begonnen hat, das Buch der Amerikanerin Leslie Feinberg zu lesen, versteht bald, warum es in Amerika und Europa so großes Aufsehen erregt. Dieser stark autobiographisch gefärbte Roman hat wie kein anderer der Diskussion um Weiblichkeit, Männlichkeit und Geschlechterdifferenzen neue radikale Züge verliehen. Feinberg wird aus ihrem Werk heute abend im Konsul-Hackfeld-Haus lesen.

Das Buch führt zurück in die 50er und 60er Jahre Amerikas. Wie die Autorin wächst auch Jess, die Protagonistin des Romans, in Buffalo auf. In einer Kleinfamilie, wie es sie überall auf der Welt gibt. Und wie viele andere Mädchen ihres Alters probiert Jess vor dem Spiegel heimlich den Anzug ihres Vaters an. Im Unterschied aber zu den meisten weiß sie sofort, daß der Anzug ihr viel mehr entspricht als jedes noch so hübsche Kleid.

Frau oder Mann? Jess ahnt, daß sie anders ist, daß weder die eine noch die andere Zuordnung ihr entspricht. Sie ist nicht „im falschen Körper“geboren, den sie qua Entscheidung und mit Hilfe der Medizin zum „richtigen“machen könnte. Sie lebt vielmehr jenseits dieses kategorialen Raumes und muß sich doch, will sie überleben, entscheiden für eine der beiden vorgegebenen Seins-Formen. Ein Prozeß, der schmerzhaft ist; denn jede Entscheidung ist mit Verlust verbunden, mit dem Verlust der Identität, der psychischen und körperlichen Unversehrtheit.

Die „Normalität“ist daher gleichbedeutend mit Tod. Gleichzeitig sehnt sich Jess nach einem Auskommen mit geregeltem Einkommen, nach Geborgenheit und einem Zuhause, das sie mit ihrer Geliebten teilen kann. Doch Gewalt, Ausgrenzungen und Vorurteile bestimmen das Leben von Jess, der Jüdin in Männerkleidern, die Frauen liebt. Und auch die Lesben, die Schwulen, die politische Frauenbewegung verweigern Jess das Gefühl der Zugehörigkeit.

Das Buch besticht weniger durch sprachliche Brillanz. Vielmehr ist es die beinahe erschreckende Fähigkeit der Autorin, die LeserIn durch Jess erleben zu lassen und in dieser Figur verschiedene Persönlichkeitswechsel zu vollziehen.

Der Roman ist ein Dokument unbedingter Ehrlichkeit, die sich als letzter Ausweg aus einem nicht definierten und damit scheinbar nicht existenten Raum erweist. Eine Ehrlichkeit, die schonungslos die Normierungen lesbischer butch- und femme-Rituale mitbenennt und dabei eigene Widersprüche nicht ausläßt. Ein Buch, das nicht Toleranz propagiert, sondern Achtung. Die Lesung ist allein Frauen vorbehalten. Dora Hartmann

21 Uhr, Konsul-Hackfeld-Haus

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