■ Demokratie unter Druck (2): Das Bewußtsein, daß in egalitärem Denken auch ein freiheitsgefährdendes Moment steckt, ging verloren
: Grüne Prätorianer?

Der Spruch gehört zu den elenden Sätzen, die das Jahrhundert hervorgebracht hat: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Elend, weil er die Möglichkeit von Freiheit leugnet, weil er den Menschen zum Gefangenen, zur Nur- Kreatur macht. Der Skandal des Spruches besteht darin, daß er stets viel zu viel Wahrheit enthält. Es stimmt ja, daß Demokratie und zivile Gesellschaft wacklige Veranstaltungen sind, daß kräftige Böen die Hütte umzuwerfen drohen und ein wirksamer Schutz davor nicht in Sicht ist – zumindest in Deutschland nicht, mit seiner kurzen demokratischen Tradition.

Wir hatten uns das so schön zurechtgelegt: Erst kam Adenauer, dann kamen Brandt und Dutschke, erst wurde der Aufschwung bewerkstelligt, dann der Demokratie Leben eingehaucht, erst wurde das Zivilgebäude errichtet, dann wurde es bezogen, mit Leben erfüllt. Und wenn sie nicht gestorben sind...

Doch dann kam der Knick. Die rheinische Republik entschwand. Die Vereinigung erweiterte die Republik um etwa 20 Millionen Neubürger, die nicht die Schule der Bundesrepublik durchlaufen hatten. Der Ton wurde schnell rauher und unduldsamer. Nicht der Osten – der so war, wie er nun mal war – wurde zum Problem, sondern der Westen, der sich vom Osten aus dem Tritt bringen ließ. Elisabeth Noelle-Neumann vertritt die These (FAZ, 25.2. 1997): der Osten erobert den Westen, nicht umgekehrt. „Die Kluft zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen ist dabei, sich zu schließen durch Anpassung der Westdeutschen an die Empfindungswelt der Ostdeutschen.“ Die hatten schnell unverblümt den alten Verdacht gehegt, die Demokratie sei eine windige Sache.

Dieser Verdacht wandert inzwischen – zur Überzeugung verhärtet – vom Osten in den Westen. Daß die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik wert sei, verteidigt zu werden, glaubten im Westen 1994 noch 76 Prozent, heute nur noch 69 Prozent (Vergleichszahlen Ost: 53 und 36 Prozent). Freiheit hat keinen guten Ruf mehr, sie gilt – Herr Brecht hat wieder recht – als die Freiheit der Reichen und nicht als schätzenswert an sich.

Freiheit und/oder Gleichheit: Unter dem Druck rauher Zeiten gewinnt die Gleichheit wieder Terrain – was nicht bedenklich wäre, wenn sich das Bewußtsein davon halten würde, daß Freiheit und Gleichheit zwar miteinander zu tun haben können, immer aber im Streit liegen. Die zivilgesellschaftliche Übereinkunft, daß das Verhältnis beider zueinander stets austariert werden muß, weil in dem egalitären Begehren auch ein freiheitsgefährdendes Moment stecken kann: diese Übereinkunft hat Anhänger verloren.

Viele sind schuld daran, daß die gesellschaftlichen Sitten verlottern: die neoliberalen Durchstecher, die nicht begreifen, daß gerade radikale Wirtschaftsreformen nur funktionieren können, wenn man denen, die dabei vorerst nicht auf der Gewinnerseite stehen, mehr zu bieten hat als warme Dankesworte bei der Weihnachtsfeier. Schuld sind auch jene Politakteure, von Schäuble bis Trittin, die die Politik als ein Geschäft zur Herabsetzung des politischen Gegners erscheinen lassen. Schuld sind die jungen Rechtsradikalen, die ihre Chance wittern und die rechtsfreien Räume erweitern. Schuld sind: die Ossis, der Weltmarkt, die Lobbys, die Zuwanderer und ein Bundespräsident, der im Akkord das moralische Kapital von Aufbruchreden verschleudert. Schuld ist aber auch die Linke, die heute in rot-grüner Arbeitsteilung den Wechsel in Bonn will. Sie neigt zu Mogelpackungen und zur Unterforderung des Publikums.

Allen markigen Worten zum Trotz, die heute von Grünen zu hören sind: die Torschlußpanik der katakombenerprobten Politik- recken, die sich mit 50 schon dem Greisenalter nahe sehen, ist so groß, daß sie dem antiquierten Industriekurs Gerhard Schröders nicht wirklich entgegentreten werden. Schon deswegen nicht, weil ihr abgeschliffener Antikapitalismus irgendwann, keinem ist's aufgefallen, in einen hilflosen In-Gottes-Namen-Kapitalismus gemündet ist. So könnte die Ära Kohl weitergehen – ergänzt um Begrünung, Quotierung und ein paar Nachhutgefechte gegen bürgerliche Institutionen, die ohnehin verblaßt sind. Es ist mehr als fraglich, ob sich Rot-Grün an die Hardware der Gesellschaft herantrauen wird.

Das hat auch damit zu tun, daß die Linke zwar oft genug etatistisch war, dem Verfahrensmäßigen, das die Demokratie vor allem auszeichnet, aber nur geringen Respekt entgegengebracht hat. Die Grünen etwa haben die Institutionen lange Zeit herabgesetzt, verspottet und dem autoritären Staat, der abzuschaffen war, zugeschlagen; und die gleichen Grünen haben sich, wo immer sie konnten, wenig später in den Institutionen mit großer Energie festgekrallt. Aus der Radikal-Basokratin Antje Vollmer ist eine Staatsrepräsentantin geworden, die die Kritik an der politischen Klasse gerne in die Nähe der Majestätsbeleidigung rückt. Böse sind die Institutionen, die ich nicht habe, gut sind die, über die ich verfüge.

Diese Beutementalität verträgt sich schlecht mit dem Geist der Demokratie. Denn in der muß die Unversehrtheit der Institutionen ein hohes Gut sein. Der Staat darf nicht zerbröselt werden, er muß stark sein – und das muß auch dann Gültigkeit haben, wenn er Entscheidungen trifft, die mir nicht passen. Der Staat wird nicht zum Leviathan, wenn er ein Ausländergesetz exekutiert, das ich für antiquiert halte.

25 Jahre Wertewandel, Individualisierung und Hedonismus haben den zackigen Beamtenstaat der Adenauer-Jahre umgemodelt. Daß Institutionen unabhängig von materieller Zuwendung, Zeitgeist und Seilschaftsdenken sein sollten – das ist ein Gedanke, der von rechts bis links längst als vielleicht liebenswerte, mit Sicherheit aber antiquierte Spinnerei gilt. Hinter dem scheinmodernen Gerede vom Staat als Dienstleister verbirgt sich jene Interessenmentalität, die die Republik längst zum Opfer von Verbänden und Lobbys gemacht hat.

Daß die Sozialdemokratie – von ihrer Herkunft her im Materiellen beheimatet – dafür anfällig ist, mag man verstehen. Die Grünen – einstmals des Postmaterialismus geziehen – hätten es nicht nötig, Teil dieses Sumpfes zu werden. Sicher, die Zahl derer ist groß bei den Grünen, die mangels anderer Perspektiven versorgt werden müssen. Aber das Menschheitspathos des Vereins könnte ja auch einmal seine gute Seite haben: die Grünen als die Prätorianer, die Verfassung und Verfahren schützen und für das Wunder der Demokratie werben. Thomas Schmid