Türhüter im Unglück

Slavia Prag spielt im Europacup der Pokalsieger kafkaesk 1:1 gegen einen wenig überzeugenden VfB Stuttgart  ■ Aus Prag Wolfgang Jung

Franz Kafka hatte es gewußt. Sein Roman „Der Prozeß“ endet exakt dort, wo heute das Rusicky- Stadion seinen Stahlbeton in den Prager Strahov-Hügel drückt, und das Werk schließt mit den Worten: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Weit nach Mitternacht saß Slavia-Torwart Jan Stejskal immer noch zwischen blutverschmierten Bandagen und verschwitzten Socken in den Katakomben und tat sich selber leid – zwei Meter groß, aber ein Häufchen Elend. Der 36jährige hatte in der 51. Minute einen Schuß von Stuttgarts Mittelfeldspieler Gerhard Poschner unter dem Körper ins Tor rutschen lassen und den Schwaben damit zu einer guten Ausgangsposition für das Rückspiel am 19. März verholfen. Der zweite Pechvogel des Abends war Stürmer Robert Vagner, der in der 73. Minute einen Elfmeter verschoß. Wie das Messer in Kafkas Protagonisten Josef K. bohrte sich nach dem Schlußpfiff Enttäuschung in die Prager Seelen.

Ein vierzigseitiges Dossier über den VfB hatte Trainer Pavel Tobias in den vergangenen Wochen zusammengestellt und die Mannschaft in der Bundesliga viermal beobachtet. Er hatte sich Videokassetten von früheren Europapokalspielen besorgt und sich sogar fast auf den Vorschlag von Ex-Nationalspieler Ladislav Vizek eingelassen. Der hatte 1978 mit Dukla Prag den VfB Stuttgart aus dem Uefa-Pokal geworfen und sagte nur halb im Scherz: „Wir haben damals 4:0 gewonnen, weil wir mit dem vereisten Platz besser zurechtkamen.“ Slavia solle vor dem Anpfiff das Spielfeld kurz mit einem Gartenschlauch präparieren.

„So was machen wir nicht“, hatte sich der aufrechte Tobias echauffiert und statt dessen einen Ersatz für den verletzten Verteidiger Sladan Asanin gesucht. Kann gut sein, daß der Kroate bald die tschechische Haupstadt in Richtung Kaiserslautern verläßt, was zwar eine Katastrophe wäre, aber für Slavia den Normalfall darstellt. Seit der Klub im Herbst 1995 den SC Freiburg im Europapokal schlug, wechselten acht Nationalspieler und Erfolgstrainer Frantisek Cipro ins zahlungskräftigere Ausland.

Vor gut einem Jahr hatte Stuttgarts Murat Yakin noch mit den Grasshoppers Zürich den Pragern eine 5:0-Abfuhr erteilt. Der VfB erweckte am Donnerstag abend nie den Eindruck, als ob Slavia beim Rückspiel gleichermaßen chancenlos sein wird. Im Gegenteil – abgesehen von Balakow und Ristic bewiesen die Schwaben, daß sie spielerisch an einem toten Punkt angelangt sind. Die Beteuerung, jedes Spiel zeige Fortschritte, wirkte in Prag wie die früheren Durchhalteparolen der tschechischen KP. Die quirligen Slavia- Spieler (Durchschnittsalter: 21 Jahre) stellten mit ihren geringen Mitteln den Bundesligisten ein ums andere Mal vor erhebliche Probleme. Da landen zwar viele gutgemeinte Pässe im Seitenaus, und manche Flanke flattert hinters Tor, aber es ist stets jener Hauch genialer Dilettantismus dabei, mit dem Kadlec, Kuka oder Nemec die Bundesliga bereichern. Vielleicht kommt ja außer Asanin demnächst der 21jährige Tomas Kuchar dazu, der den gesperrten Spielmacher Pavel Horvath exzellent vertrat.

Wenn also Stejskal nicht danebengegriffen hätte, wäre der Sieg für Slavia wahrscheinlich – und verdient – gewesen. „Fehler gehören zum Fußball, aber das entschuldigt ihn nicht“, kritisierte Trainer Tobias den Tormann, der wegen einer Oberschenkelverletzung mit versteinerter Miene eine Viertelstunde vor dem Abpfiff vom Feld schritt. Kafka hatte seinen Fehler schon 1917 geahnt. Im „Prozeß“ heißt es: „Man könnte fast sagen, der Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, als er eine Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte.“

VfB Stuttgart: Ziegler – Spanring, Verlaat, Berthold – Djordjevic (90. Endreß), Haber, Soldo, Poschner, Stojkovski – Balakow – Akpoborie (16. Ristic)

Zuschauer: 8.712; Tore: 1:0 Vacha (39.), 1:1 Poschner (50.)

Slavia Prag: Stejskal (74. Cerny) – Kozel – Koller, Vlcek – Lasota, Krejcik, Ulich, Kuchar, Labant – Vacha (70. Pinjo), Vagner