Gruppierung letzter Chance

■ Wer und was bei der 2. Arbeitslosendemonstration so zusammenkam

Die taz liegt in der Mitte. In der neuernannten Hauptstadt der Arbeitslosen sind es bis zur Schaltzentrale der Ohnmacht nur wenige Schritte. Die erste Arbeitslosendemonstration vor vier Wochen war akustisch sogar bis in die Kulturredaktion vorgedrungen, doch bevor man die Jacke anziehen und hinuntereilen konnte, hatte sich die Gruppe schon wieder aufgelöst. War da was? Die „Bewegung des 5. Februar“ hatte sich gegründet.

Vorgestern, am zweiten bundesweiten Aktionstag, leiteten die doppelreihig geparkten Polizeiwannen vom U-Bahnhof Kochstraße wie von selbst die Friedrichstraße hinab bis vor das Haus Nr. 34. Ein makellos sandgeschliffener Repräsentativbau, auf dessen siebenstöckigem Haupttrakt ein Adler aus Stein thront. 1940 wurde das heutige Landesarbeitsamt als „Gauarbeitsamt“ eröffnet, fünf Wohnhäuser mußten dafür abgerissen werden. Von einem der Balkone gegenüber nimmt ein Hobbyfilmer die ankommenden Demonstranten ins Visier, doch in der Nr. 34 herrscht Fensterverbot. Dabei gellen bereits Pfiffe, und eine erste Rednerin hebt an.

Sind viele da? 500, heißt es später offiziöserseits, ein Prozent der bundesweit Protestierenden, die knapp 0,01 Prozent der Arbeitslosen ausmachen. Journalisten wohl mitgezählt. „Mit der Arbeitslosigkeit werden wir alle erpreßt, ob erwerbslos oder noch im Job“, ruft eine auf dem Podest. Wer seinen taz-Job verliert, wird mit seinem Arbeitslosengeld zum Sozialfall. Wer ist dann für einen zuständig?

Die auf dem Rednerinnenpodest hat sich als „Martina“ vorgestellt, sie sei seit 14 Monaten arbeitslos. Die meisten, die reden, nennen ihre Namen und gehören einer Organisation an. Jeder bekommt Beifall oder unterstützende Buhs an den richtigen Stellen, wie gut oder schlecht formuliert das allseits Bekannte auch zu Gehör gebracht wird. Die Geste zählt, der Mut, die Stimme zu erheben. Flugblätter verteilen ist einfacher, das können auch Schüchterne und tun es unablässig. Wenn ein Flugblattgeber selbst eines bekommt und einstecken will, kommt es zu Staus im Protestraum, in dem man hin und her geht, um sich warmzuhalten, Fahnen auszuweichen, Bekannte zu begrüßen oder die Redner anzusehen.

Die Stimmung ist entspannt und multikulturell. Bestimmt sind es alles Arbeitslose hier, aber die meisten sind in erster Linie etwas anderes und nutzen die Gelegenheit des Zusammenkommens. Frauen/Lesben werben für ihre Demo am 8. März, die anarcho-syndikalistische Bildungsgewerkschaft kündigt ihre Gründung an, KPD und PDS halten sich etwas zugute, der „Revolutionäre Funke“ will überspringen, ein türkisch-deutscher Bürgerverband ist vertreten, Antifa-Gruppierungen sind auszumachen, und einer mit einem „Linksruck“-Schild sagt zu seinem Nachbarn: „Die Oktoberrevolution kann man so verteidigen, daß man das als Notwendigkeit erklärt“. Einen eigenen kleinen Demozug mit T- Shirts über den Jacken und witzigen Schildern bildet die „Chance 2000“-Truppe. „Bin 1 Volk“, „Mobilität“, „Wähle dich selbst“. Theaterleute, die, angeführt von Christoph Schlingensief, dem „König der Herzen“, den Transparenteträgern ihre gleichfalls echten Parolen entgegenhalten. Denn eine Parteigründung ist ausgemacht, Schlingensief will Arbeitslosen und anderen sich minderwertig fühlenden Mehrheiten eine Stimme geben, in der „Partei der letzten Chance“.

„Chance 2000“ steht auch auf einem der beiden Soli-Bettlaken, die irgendwann aus zwei Fenstern im obersten Stockwerk des Seitentrakts herabgelassen werden. Die Tat von V-Leuten oder Partisanen? Egal, jetzt kommt Stimmung auf, nehmen die Ausführungen in den Reden ab und die Parolen zu. „Es reicht für alle, und uns reicht es schon lange.“ Unmittelbar vor dem Rednerpult wird ohne Unterlaß auf Pfeifen getrillert, die – von einem Arbeitslosen? – für 2,50 Mark verkauft werden.

Um 11.15 Uhr ist die Kundgebung zu Ende, ein Demozug zum Haus der Demokratie beginnt – eine Bürgerrechtsbasis, die an den Deutschen Beamtenbund verkauft zu werden droht. „Das erste Transparent geht jetzt nach vorn“, ruft ein Organisator, weswegen manche verfroren zu kichern beginnen. Sprachbourgeoise Akademiker, darunter ich. „Nein, eigentlich darf man darüber nicht lachen“, sagt eine scheinselbständige Bekannte neben mir. „Hauptsache ist doch, daß sich irgend etwas bewegt.“ Petra Kohse