Der Mythos vom König der Schmuddelhefte

Seine Tokiobilder zeigen Stilleben als Ende des Warenkreislaufs, seine Frauenakte sind wenig pornographisch, aber mondän und mittelmäßig zugleich – ein Überblick mit Arbeiten des japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki in den Hamburger Deichtorhallen  ■ Von Birgit Glombitza

Der Fotograf stöbert durch die Eingeweide der Stadt und verschlingt alles, was ihm vor die Linse kommt. Schienen, Stromdrähte, Kanalrinnen, Wischwasser, Müllpanoramen. Dazwischen zufällige Blicke und Begegnungen, die die Kamera aus dem Chaos millionenfacher Einzelbewegungen herauszupft. Frauen am Fenster, die sich gerade umziehen, müde Mädchen auf der Rolltreppe; eilige Passanten, deren Abbild verwischt. Der manische Bilderfluß des japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki zelebriert in langen Schwarzweißserien das Beobachten selbst: „Fotografie ist ein Ich- Roman, Fotografie ist die Kopie einer Privatsache, Fotografie ist eine die Wahrheit umarmende Lüge. Ich bin die Fotografie.“

Mehr als 1.000 Bilder, so verkündet Araki gerne vollmundig, mache er am Tag. Und die Anzahl seiner Bildbände beruht bereits jetzt auf vagen Schätzungen. Unter dem Titel „Tokyo – Markt der Gefühle“ zeigen die Hamburger Deichtorhallen derzeit einen Querschnitt durch das Werk des 58jährigen Popstars der japanischen Fotografenszene. Die Auswahl wird hierbei bewußt in den Kontext der zeitgleich präsentierten Fotografie-Sammlung Lambert gestellt, so daß sich von selbst sinnvolle Vergleiche mit den Arbeiten Larry Clarks oder Nan Goldins (mit der Araki 1994 den Bildband „Tokyo Love“ produzierte) ergeben.

Seit 30 Jahren fotografiert Araki sich durch das Dickicht Tokios. Die belichteten Fragmente seiner Stadt kombiniert er mit Blumenmotiven und Bildern von gefesselten Frauen. Plumpe männliche Phantasien, mit denen Araki auch zahlreiche S/M-Magazine beliefert, wechseln sich mit absichtlichen Manierismen, die die Mythen des geschlechtlichen Alltags und seinen abseitigen Inszenierungen mit den Mythen der Kunst als provokante Überschreitung verbinden. Die Frauen sind mondän und mittelmäßig zugleich. Sie erproben den überdeutlichen Blick der Schmuddelheft-Königinnen oder drapieren sich mit distanzierter Eleganz. Manche scheinen makellos, andere schielen.

An Aktbildern, die Frauen als verschnürte Körperpakete ausstellen, scheint sich kein Japaner zu stören. Fesselung gilt hier als tradierte Kunst, bei der der Meister solange herumknüpft, bis die Eingeschnürte wie ein Mobile über dem Boden schwebt. Ärger handelte sich Araki in seiner Heimat nur dann ein, wenn das weibliche Schamhaar zu sehen war. Denn das gehört in Japan auf den Index des Bilderverbots.

Araki selbst, vor dessen Studio die Japanerinnen für solche Aufnahmen Schlange stehen, war es stets schnurz, ob seine Bilder nun Kunst, Nicht-Kunst oder gar Pornographie sind. Mit dieser leidlichen Debatte rückten ihm erst die Europäer auf den Leib. Araki- Ausstellungen in Graz oder Wolfsburg brachten dem ehemaligen Werbefotografen im Abendland schnell den Ruf eines selbstgefälligen Erotomanen ein, der mit seinen Bildern nur den fotografischen Erguß eines Beobachtungsneurotikers feiere. Und vor der Eröffnung der Hamburger Ausstellung schickte die Grüne Heide Simon noch schnell ihre Entrüstung mit einer Pressemitteilung durch die Faxe der lokalen Tageszeitungen. „Künstlerisches Handeln im Stil von Akari (!)“, heißt es hier mit vor Erhitzung irritiertem Namensgedächtnis, „bagatellisiert die Gewalt gegen Frauen.“ Das peinlich verrutschte P.C.-Credo des hilflosen Deichtorhallenleiters Zdenek Felix, demnach, Fesseln hin oder her, auch Prostituierte „darstellungswürdige Objekte“ seien, machten die Sache dann auch nicht mehr besser.

Doch alles Geraune und Getöse um Arakis provokante Körperansichten übertönen schnell das Wesentliche seines Gesamtwerkes, in dem Erotik selten im Einzelbild, sondern meistenteils mit Großstadtassoziationen verzahnt werden. Und genau diese Montagen verweisen auf das eigentlich Obszöne in Arakis Werk. Den Tod, oder den „Würgegriff der Verwesung“, wie der Fotokünstler die Grundierung all seiner Bilder beschreibt. So bildet Tokio eine gigantische morbide Kulisse, bevölkert von erstarrten Menschen und toten Tieren. Ein seltsames Treibhaus, in dessen künstlichem Licht nur Lebloses zu gedeihen scheint. Und so teilt das Fotografierte das Schicksal mit den Eidechsen auf Arakis Bildern, die allesamt seine Katze Chiro erlegte.

In Arakis Zyklen fügen sich Stilleben vom Ende des Warenkreislaufes zu szenischen Andeutungen, bis ein verworrenes Storyboard entsteht: Murmeln am Waschbecken. Eine Katze beißt einer Kröte den Kopf ab. Eine Frau liegt im Bett. Eine verdreckte Teekanne. Röhren und Schläuche, vom Zufall unsinnig ineinander gehäkelt; Plastiktiere auf Waschbetonsteppe. Kaleidoskopische Einstellungen, wie sie auch in aktuellen japanischen Filmen wie „Blue Fish“ oder „Royal Mononoke“ zu sehen sind, die im apathischen Rhythmus vom eingeschnürten Leben in einem Moloch zwischen Traditionen und Fortschrittseuphorie erzählen.

Daß die elektronische Datierung der Negative die Tage der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und das Datum der japanischen Niederlage anzeigt, spannt Arakis Bildergeschichten zusätzlich in ein nationales Trauma ein. „Death Reality“ nennt der Fotokünstler seine Serie aus beschädigten Überresten eines alten Films aus den 70er Jahren. Sie zeigen feierliche und alltägliche Szenen, die Säuren und Schmauchspuren bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben. Eigens für die Deichttorhallen hat Araki dieses halbverfallene Material mit einer verstörend schönen Blumenreihe kombiniert. Ein Arrangement, das zweifellos zu den beeindruckendsten und aggressivsten Arbeiten in Arakis „unerbittlichem Stellungskrieg der Symbole“ gehört. Und es ist die konsequenteste Fortsetzung einer Erinnerungsarbeit, die Araki mit dem Sterben seiner Frau Yoko 1991 begann.

„Du fängst damit an, die Dinge zu fotografieren, die du liebst; und dann fotografierst du einfach weiter“, erklärt Araki seine Obsession. Das Foto der toten Yoko stellte er auf ihrer Beerdigung aus. Eine Aktion, die für den bislang größten Skandal in Arakis Laufbahn sorgte.

Nobuyoshi Araki: „Tokyo – Markt der Gefühle“, bis 1.6. 98, Deichtorhallen Hamburg. Katalog (mit Texten von Zdenek Felix und Ulf Erdmann Ziegler), 39 DM