Biographie, ein Gesellschaftsspiel

■ Schriftsteller Majakowski und Sopransänger Farinelli als Opernhelden. Leipzig und Karlsruhe stehen für konträre Modelle des Musiktheaters

Zwei Künstler der Vergangenheit, die fast in Vergessenheit geraten sind: Um den Tod des russischen Revolutionsdichters und „Maulwerkers“ Wladimir Majakowski (1893–1930) geht es in einem gewaltigen Torso Dieter Schnebels, den Achim Freyer in Leipzig präsentierte. Um den unsterblichen Ruhm des Sopransängers und Höflings Farinelli (1705–1782) in einem Historienstück, das Siegfried Matthus zu den Händel-Festspielen in Karlsruhe beisteuerte. Beide Komponisten leben in Berlin – Schnebel im Westen, Matthus im Osten. Im Unterschied der verhandelten Biographien und dem Zugriff auf sie wird nicht nur die Bandbreite dessen sichtbar, was am Ende der Ära der Moderne neues Musiktheater sein will, sondern auch die Diskrepanzen im Verständnis der Strukturen, welche die Welt bestimmen und damit das Leben des einzelnen verändern.

Schnebel ging es in seiner Majakowski-Inszenierung um etwas hochgradig Gesellschaftliches: die gescheiterte Hoffnung auf den Parallelklang von politischer und ästhetischer Avantgarde. Ein kurzes Vorspiel durchmißt die wichtigen Stationen von Majakowskis Leben, das sich um 1910 politisch und ästhetisch radikalisierte, zum illegalen Kampf der Bolschewiki, in die rauschhaften Höhen des Revolutionskünstlers führte, dort aber von den Anfeindungen der alten und neuen Spießer der Sowjetunion angefochten wurde.

Drei große Szenen: die letzte Lesung von Majakowski, den Schnebel ebenso wie die Geliebte Lilja Brik als gedoppelte Gestalt präsentiert – als eine sprechende und eine singende. Freyer läßt den Sänger schräg über dem Kopf des Majakowski-Sprechers schweben – so wie eine aus dem Körper entweichende Seele. Die in vier ansteigenden Sitzreihen plazierten Choristen deuten die geschwundene Zustimmung für den linksradikalen Poeten und die womöglich organisierte Feindseligkeit gegen seine Kunstrichtung an. Dann der Abschied von der krisenhaften Liebe des Lebens mit einer wundersam an Gustav Mahler anknüpfenden Musik, und das Testament als Menetekel an der Wand: die fahrige Schrift einer gespaltenen Persönlichkeit, die mit ihren Nerven am Ende ist.

Stück und Inszenierung lassen offen, ob der Held 1930 freiwillig aus dem Leben geschieden ist oder nicht doch zu diesem letzten Schritt von der sich etablierenden totalitären Macht genötigt wurde. Insgesamt nutzt das Werk verschiedenste Schichten der Musikgeschichte und setzt doch etwas konsequent Neues: Von der reaktivierten Koloratur bis zum schweren Atem der Angst wird als musique concrète der große Bogen der bedächtig ausgeschöpften Möglichkeiten vorgeführt: eben Oper gemacht.

Ohne Pause schließt sich der „Totentanz“ an: eine raumgreifende Requiem-Komposition, gewidmet der anwachsenden Zahl von Toten, diesen vielen Milliarden Menschen, für die die Verheißung der Auferstehung gilt (für Schnebel eine „wahrhaft revolutionäre Idee“). Zum großen Crescendo zeigt Achim Freyer eine nicht enden wollende Parade von „einfachen Leuten“: Das Quälende der gewaltigen Zahlen der von dieser Erde Abberufenen ist da Bild geworden. Die planvolle Redundanz der Inszenierung läßt der von Johannes Kalitzke vorzüglich geleiteten Musik großen Raum, so wie zuvor die Hohlstellen der Musik durch die Intensität der Freyerschen Bilder erfüllt wurden. Und so etabliert sich ein kraft- und poesievolles Musiktheater, das an seinem experimentellen Charakter dezidiert festhält.

Von gegenläufigen Tendenzen ist die in Karlsruhe gezeigte Aufbereitung der Biographie Farinellis bestimmt: der Sänger mit dem hohen, durchdringenden, schmeichelnden und doch so entschieden energischen Ton sollte durch einfühlsame Kunst – gestützt auf einen Szenenentwurf von Walter Jens – „lebendig“ werden. Der in DDR-Zeiten so erfolgreiche Opernkomponist Matthus entführte also an den Hof des schwermütigen, vielleicht schizophrenen und manisch-depressiven Königs Philipp V. von Spanien, an dem der Sänger und Komponist Farinelli schließlich reüssierte – indem allein von seiner Stimme der Krankheit des Monarchen Linderung kam.

Aber die Macht und Magie, die einst von solchen stimmgewaltigen Männern ausgegangen sein muß, wird heute nicht mehr lebendig, auch wenn sich der Tonsatz den Schreibweisen des 18. Jahrhunderts anschmiegt und ein in seinem Fach so anerkannter Sänger wie Axel Köhler in ein Barockkostüm gezwängt wird. Die Komposition erinnert an die Filmmusik der sechziger Jahre: Sie spricht Kauderwelsch, wo sich der klare Kontrast von moderner Tonspur und historischer anböte. Ob solche falsche Versöhnung den toten Sänger „verlebendigt“, bleibt fraglich. Aber eine solche Hommage an Farinelli paßt gut in eine restaurativ gestimmte Kulturlandschaft und verspricht, das Stück mit dem größeren Publikumserfolg zu werden.

Frieder Reininghaus