Putschist mit unheilbar gutem Gewissen

Gestern hat Augusto Pinochet nach knapp 25 Jahren den Oberbefehl über die chilenische Armee abgegeben. Einfluß behält er: Heute soll er als Senator auf Lebenszeit vereidigt werden. Die Würdigung eines Diktators  ■ von Urs Müller-Plantenberg

Das starre, maskenhafte Antlitz mit der schwarzen Sonnenbrille ist in den letzten Jahrzehnten zum Symbol für Diktatur und Menschenrechtsverletzungen überhaupt geworden: General Augusto Pinochet, 1973 Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres und als solcher seit dem 11. September desselben Jahres Vorsitzender einer Militärjunta aller Teilstreitkräfte, die gegen die Regierung der „Volkseinheit“ unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende einen blutigen Putsch durchführte, der Zehntausende das Leben kostete. Und doch hat sich dieser Chef einer „Mörderbande“, wie Hans Matthöfer die Junta mit Recht genannt hat, bis heute stets gerühmt, ein unheilbar gutes Gewissen zu haben.

Man hätte vor 1973 mehr über diesen 1915 in der Hafenstadt Valparaiso geborenen Berufssoldaten aus einer Familie des gehobenen Mittelstandes wissen können. Immerhin hatte er während seines planmäßigen und umweglosen Aufstiegs innerhalb der Heereshierarchie dreimal US-amerikanische Militärkurse in der Panamakanal-Zone besucht. Und sein Buch über „Geopolitik“, das er als Professor an der Kriegsakademie 1968 veröffentlicht hat, war mit seiner durchgängigen Betonung der Wichtigkeit der organischen Harmonie von „Blut und Boden“ dem Denken und der Sprache der deutschen Nationalsozialisten in einem solchen Maße verpflichtet, daß er selbst erstaunt war, daß ihn die linke Regierung von Salvador Allende bei ihrem Amtsantritt nicht sofort entlassen hat.

Es kam anders: Als der demokratisch gesinnte Oberbefehlshaber des Heeres, General Carlos Prats, unter dem Druck der Oberklasse von Santiago entnervt das Feld räumte, glaubte Allende, daß am ehesten Pinochet ihn vor einem drohenden Putsch schützen könnte, und ernannte ihn zum Nachfolger. Der begann sofort mit seinen Kollegen von Heer und Marine, den von ihm schon länger ersehnten Putsch zu planen und auszuführen, und entfaltete eine politische Machtgier, wie man sie diesem eher unauffälligen Karrieresoldaten zunächst kaum zugetraut hatte. Pinochet ließ sich zuerst zum Juntachef, dann zum Obersten Chef der Nation und Ende 1974 zum für die gesamte Regierung und Verwaltung verantwortlichen Staatspräsidenten machen.

An Rückkehr zur Demokratie war für lange Zeit nicht zu denken. Die linken Parteien wurden verboten, die des Zentrums und der Rechten zunächst suspendiert, dann auch verboten. Vor allem aber machten die Menschenrechtsverletzungen des Geheimdienstes DINA, der viele Hunderte von Oppositionellen bei Nacht und Nebel verhaftete und verschwinden ließ, jede Zusammenarbeit demokratischer Kräfte mit der Junta unmöglich. Dem DINA-Chef Manuel Contreras, der nachweislich 1974 Pinochets Vorgänger Prats im Exil in Buenos Aires und 1976 den Ex-Außenminister Orlando Letelier im Exil in Washington ermorden ließ, blieb der Diktator immer treu verbunden.

Das gesellschaftliche Leitbild der Putschisten schien zunächst ein autoritärer Ständestaat nach dem Muster Franco-Spaniens zu sein, in dem klerikale, konservativ-autoritäre und wirtschaftsliberale Spielarten des Antisozialismus ihren Platz finden sollten. Dann aber setzte sich bald eine kleine Gruppe von Ökonomen durch, deren gemeinsamer Nenner war, daß die meisten von ihnen durch die Schule der neoliberalen Professoren Milton Friedman und Arnold Harberger an der University of Chicago gegangen waren.

Diesen sogenannten „Chicago Boys“ wurde 1975 erlaubt, unter der Führung des ehemaligen Christdemokraten Jorge Cauas ein wirtschaftliches Schockprogramm in die Tat umzusetzen, wie es die Welt damals noch nicht kannte: völlige Liberalisierung aller Preise außer dem für die Ware Arbeitskraft, völlige Öffnung des inneren Marktes für die Konkurrenz vom Weltmarkt und eine drastische Reduzierung der Rolle des Staates. Das Ergebnis war zunächst eine Zerstörung großer Teile der heimischen Industrie und eine Wirtschaftskrise größten Ausmaßes mit real bis zu über 30 Prozent Arbeitslosen, eine Krise, wie sie eine demokratische Regierung nie durchgestanden hätte. Die unbeschränkte Diktatur Pinochets, der auf niemanden Rücksicht zu nehmen brauchte und sich aller „populistischen“ Maßnahmen enthielt, war die Voraussetzung dafür, daß die Chicago Boys frei schalten und walten konnten und nicht nur die Wirtschaft, sondern in den nächsten 15 Jahren alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft in weitreichenden „Modernisierungsprogrammen“ dem freien Spiel der Marktkräfte aussetzten.

Der Preis für diese „Revolution“ war blutige Verfolgung der Opposition und eine Konzentration der Vermögen und Einkommen. Als General Leigh, der Vertreter der Luftwaffe in der Junta, Anfang 1978 die sozialen Kosten kritisierte, etwas mehr Demokratie verlangte und gegen ein überfallartig organisiertes Plebiszit zu Pinochets Gunsten protestierte, wurde er – unter Bruch des eigenen Statuts der Junta – einfach für verrückt erklärt und abgesetzt.

Eine zeitweilige Erholung der Wirtschaft nutzte Pinochet 1980, um sich in einem weiteren Plebiszit eine Verfassung genehmigen zu lassen, die den Übergang zu einer eingeschränkten Demokratie um weitere acht Jahre verschob und ihm selbst für noch viel längere Zeit den Oberbefehl des Heeres sichern sollte.

Auch die zweite schwere Wirtschaftskrise von 1982 und die danach aufflammenden Proteste haben Pinochet nicht dazu bewegen können, den Chicago Boys seine Schirmherrschaft zu entziehen oder gar die in aller Welt verhaßte Diktatur aufzugeben.

Der Mitte der 80er Jahre einsetzende dynamische Aufschwung der chilenischen Wirtschaft reichte jedoch nicht aus, um Pinochet bei der Volksabstimmung im Oktober 1988 über eine weitere Verlängerung seiner Präsidentschaft um acht Jahre eine Mehrheit zu sichern. Die demokratische Opposition siegte – Pinochet erhielt rund 43 Prozent der Stimmen.

Am 11.März 1990 mußte Pinochet nach den selbstgesetzten Regeln das Präsidentenamt an den vom Volk gewählten Christdemokraten Patricio Aylwin abtreten. Dieselben Regeln aber sicherten ihm weiterhin einen beherrschenden Einfluß: Er blieb Oberbefehlshaber des Heeres und als solcher Mitglied des einflußreichen Rats der Nationalen Sicherheit. Von ihm designierte Senatoren und ein ausgeklügeltes Wahlrecht verschoben die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu seinen Gunsten. An eine Aburteilung der Verbrechen der Diktatur war schon deshalb nicht zu denken, weil eine Aufhebung des schon 1978 dekretierten Amnestiegesetzes unter diesen Umständen nicht durchzusetzen war. Im Zweifelsfall genügte es Pinochet, einen kleinen Trupp von Soldaten in voller Ausrüstung im Zentrum der Hauptstadt erscheinen zu lassen, um die ganze Nation zum Zittern zu bringen.

Trotz der Entdeckung immer neuer geheimer Masssengräber unterblieb die Ahndung der Menschenrechtsverletzungen ebenso wie jede ernsthafte demokratische Reform der autoritär geprägten Verfassung. Der Regierungskoalition, in der vor allem die Christdemokratische und die Sozialistische Partei zusammenarbeiten, erschien es als der sicherste Weg, für Ausgleich und Versöhnung einzutreten und den allgemeinen Konsens zur Maxime zu erheben.

Noch mehr Anlaß zu stolzem Auftrumpfen sah Pinochet in der Tatsache, daß dieselben Parteien, die in den achtziger Jahren die neoliberalen Umwälzungen aufs heftigste kritisiert hatten, nun die Kontinuität der Wirtschaftspolitik um fast jeden Preis propagierten, um das dynamische Wachstum trotz seiner hohen sozialen und ökologischen Kosten nicht zu gefährden. Chile wurde plötzlich zum „Modell für Lateinamerika“, und Pinochet betrachtete sich als dessen Grundsteinleger.

Schließlich gingen Intellektuelle der Linken und des Zentrums sogar so weit, die autoritären Versatzstücke in der Verfassung als Sicherung gegen eigene Versuchungen des „Populismus“ gutzuheißen und „objektiv“ in Pinochet den Garanten eines friedlichen Wegs zur Demokratie zu sehen.

Dem Insistieren der US-amerikanischen Justiz ist es zu verdanken, daß mit General Contreras und einem seiner Untergebenen wenigstens zwei Prominente der Militärdiktatur hinter Gittern gelandet sind. Für Pinochet ein schreiendes Unrecht. Originalton: „Die Sachen, die man uns vorwirft, haben in Wirklichkeit die anderen gemacht, unsere Gegner. Die Menschenrechtsfrage ist Produkt einer Kampagne, die schon am Tag des Putsches gegen uns gestartet wurde. Aus allen diesen Gründen kann ich ein reines Gewissen haben.“ Wie gesagt, ein unheilbar gutes Gewissen.

Der Autor ist Soziologe am Lateinamerika- Institut der Freien Universität Berlin