Zwischen Restriktion und Toleranz

■ Die Niederländer lassen sich in ihrer Drogenpolitik von den Drohgebärden der europäischen Nachbarn nicht sonderlich schrecken

In Den Haag tat man so, als könne man nicht lesen: Alles in allem sei die Bewertung doch „gemäßigt bis positiv“, kommentierte das niederländische Außenministerium den jüngst vorgelegten Drogenbericht der Vereinten Nationen. Schließlich sei das UN-eigene INCB (International Narcotics Control Board) „zufrieden“ mit den Bemühungen, den Cannabisverkauf und -gebrauch in den Niederlanden durch diverse Gesetzesänderungen einzuschränken.

Weniger zufrieden war das INCB allerdings mit der Ankündigung aus Den Haag, Anfang Mai mit der Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige zu beginnen: Obwohl das selbe INCB nur einige Wochen zuvor das O.K. für den Einkauf des Heroins gegeben hatte, heißt es, Den Haag hätte warten sollen, bis das Schweizer Experiment evaluiert sei.

Immer noch läßt nur wenig darauf schließen, daß die Niederländer sich von den anhaltenden Drohgebärden ihrer europäischen Nachbarn sonderlich schrecken lassen. Zwar ließen sie sich im Dezember 1996 – und zwar nicht ganz freiwillig – bereden, in einer gemeimsamen EU-Erklärung das Streben nach einer europaweiten Drogenpolitik zu unterschreiben.

Dennoch halten sie an ihrer eigenen Politik fest. „Die Ergebnisse sind Grund genug, unseren pragmatischen Ansatz fortzusetzen“, heißt es auch in den offiziellen Verlautbarungen. Und: In Amsterdam eröffneten kürzlich zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder „Druckräume“ für obdachlose Junkies; ab Mitte März wird in Apotheken im ganzen Land Marihuana an Aids- und Krebspatienten verkauft (siehe Seite 12).

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Immer noch basiert die niederländische Drogenpolitik zuallererst auf dem Prinzip gegenseitiger Duldung: Wer sich benimmt, bekommt Hilfe und darf auf offener Straße drücken oder kiffen, wer nicht, wird per Platzverweis schleunigst entfernt oder – im Falle von Touristen – gleich außer Landes geschickt.

Die „Overlast“, wie es hier heißt, soll nicht zu groß werden. Deshalb scheute sich die linksliberale Justizministerin Winnie Sorgdrager vor einigen Wochen auch nicht, dem Kabinett einen Gesetzentwurf vorzulegen, laut dem Junkies, die mehrfach als Kriminelle aufgefallen sind, zwangstherapiert werden sollen. Eine Abstimmung über den Entwurf steht allerdings noch aus.

Wegen der „Overlast“ hat auch die Zahl der Coffeeshops drastisch abgenommen: im ganzen Land um ein geschätztes Drittel; selbst im notorisch liberalen Amsterdam sind von 500 nur 350 übriggeblieben. Viele Coffeeshop-Besitzer gaben freiwillig auf, als ihnen untersagt wurde, gleichzeitig Alkohol und weiche Drogen zu verkaufen. Die Altersgrenze für den Verkauf wurde auf 18 Jahre hochgesetzt; die Höchstverkaufsmenge sind fünf Gramm; Kontrollen sind an der Tagesordnung. In Den Haag wird an einem Gesetz gearbeitet, das es Bürgermeistern demnächst ermöglichen soll, Coffeeshops ohne Angabe von Gründen zu schließen.

Mit dem für jeden Außenstehenden reichlich unberechenbaren Lancieren zwischen Restriktion und Toleranz hat man es in den Niederlanden allerdings auf wundersame Weise vollbracht, die Bevölkerung hinter sich zu vereinen: 55 Prozent der Amsterdamer stehen hinter der Einrichtung von Druckräumen, davon kann man in Frankfurt oder Berlin nur träumen. Auch konservative Politiker haben es hier schwer mit den in Deutschland so gern bemühten einfachen Antworten.

Als eine besorgte Bürgerin sich kürzlich in einer Fernsehsendung bei dem Vorsitzenden der christdemokratischen CDA, Jaap de Hoop Scheffer, über die Junkies vor ihrer Haustür beschwerte, forderte der auch ganz schnell ein härteres Eingreifen sowie das Verschwinden aller Coffeeshops. Darauf sie: „Damit verdrängt man das Problem doch nur. Kann man denn keine Zentren einrichten, die 24 Stunden am Tag geöffnet sind?“ Jeannette Goddar, Amsterdam