: Timbuktu – Malis Mysterium
Für die Weißen war die Wüstenstadt mit dem verheißungsvollen Namen immer eine Enttäuschung. Auch heute kommt man nur schwer dahinter, was diese Stadt aus Staub und Wind einst so faszinierend machte ■ Von Lorenz Rollhäuser
Stockdunkel. Das Allah Akbar der Muezzins schwebt träge über den Dächern. Irgendwo schreit ein Esel. Hähne krähen schon mal den Morgen herbei. Ein paar bellende Hunde. Unten in der Gasse schlurft hustend ein alter Mann zur Moschee. Der Tag fängt früh an in Timbuktu. Mitten in der Nacht. Durch das Fenster bläst mir kühle Luft auf den Rücken. Ich drehe mich auf die andere Seite, ziehe das Laken über die Schulter und lasse mich ins Reich der Träume zurücktragen.
Der Rest ist nicht unbedingt zum Träumen. Aber das wußte ich vorher. Überall steht es geschrieben: Die „ville mystérieuse“ ist ein armseliges, staubiges Nest. Nicht mal 20.000 Einwohner. Ein Kaff. Berühmt dafür, berühmt zu sein. Sonst nichts. Ein Flop. Die Gassen stinken nach Urin. Hitze und Staub sind unerträglich. Ganz zu schweigen von der Gier der Leute. Daß der Name trotzdem Verheißung ist, ist das einzige Mysterium.
„Nach drei Tagen bin ich schon völlig erschöpft. Als ob sie den Geist aus mir rausgezogen hätten.“ Die Amerikanerin Christy lebt sonst im Süden Malis. „Ich wohne hier bei einer Familie, aber ich fühle mich ausgesaugt. Immer nur geben, geben, geben. Das ist alles, was sie wollen, wenn sie Weiße sehen. Immer zahlen. Und draußen rennt dir dauernd ein Tuareg hinterher, hält dir ein Schwert oder irgendwelchen Schmuck vor die Nase.“ Und dann die Kinder. Sobald sie einen Toubabou, einen Weißen, sehen, stürzen sie auf ihn los: „Toubabou! Monsieur! Il faut me donner le cadeau! – Gib mir mein Geschenk!“ Es gibt kein Entrinnen.
„So wie hier hab' ich es in Mali nirgends erlebt“, meint Christy. „Es ist wie ein anderes Land. Schon wegen der Zeit, die es braucht, um hier hinzukommen. Als ob du einen Ozean überquerst. Der Niger ist wie ein Ozean. Und die Wüste ist ein Ozean.“
Ich bin auf dem Niger gekommen. Das staatliche Schiff habe ich in Mopti verpaßt. So verbringe ich die nächsten drei Tage auf einer Pinasse, einem aus Eisenteilen zusammengeschweißten und wild bemalten Kahn, vielleicht 30 Meter lang, angetrieben von drei ölenden Lkw-Motoren und mit gut hundert Passagieren und reichlich Frachtgut völlig überladen. Unten sind zwei Leute permanent dabei, das eindringende Wasser eimerweise über die Bordwand zu schütten.
Ich bin der einzige Weiße an Bord. Sie haben mir einen Platz auf dem Oberdeck zugeteilt, gleich vorn neben dem Patron und der Crew. Da kann ich mein Gepäck abstellen und versuchen, es mir irgendwie bequem zu machen.
Der Patron sorgt auch dafür, daß ich nicht hungern muß. Das Essen kommt von unten, aus dem Rumpf. Tagaus, tagein stehen ein paar Frauen mit den Füßen im Wasser und kochen Riz gras, Reis mit rotbrauner Sauce, die streng nach Karitbutter schmeckt. Gegessen wird mit den Fingern aus der gemeinsamen Schüssel. Manchmal gibt es dazu Fisch oder Fleisch. Danach starken, süßen Tee. Daß zum Kochen Flußwasser benutzt wird, darf mich nicht stören. Das Waschen muß bis Timbuktu warten.
Von Zeit zu Zeit legen wir irgendwo an, Leute gehen von Bord, Kisten werden entladen, Säcke mit Karitbutter, Zucker, all die Waren, die anders nicht in den Norden gelangen. Irgendwann nach Stunden geht es weiter. Einmal sehen wir unterwegs ein badendes Nilpferd.
Nachts quetsche ich mich irgendwie zwischen die anderen Schlafenden.
Kühle, klare Mondnacht. Und überall dieser helle, weiche Sand, der das Licht reflektiert. Wie Schnee. Ich gehe die asphaltierte Straße entlang, die Timbuktu mit dem Fluß verbindet, am Stadion vorbei zum Platz der Unabhängigkeit, wo sich der Asphalt verabschiedet und uns das Gewirr der Gäßchen verschluckt.
Unterwegs ist mir Muhammad über den Weg gelaufen. Muhammad ist dreizehn. Mit seiner Rotznase und der zerrissenen Hose sieht er ziemlich verwegen aus. Muhammad meint, ich solle mir ein Mädchen suchen. Unbedingt. Nirgends seien die Mädchen so schön wie hier, und so anständig vor allem. Und er erklärt mir auch gleich, wie ich es anstellen muß, eine davon zu erobern: „Le Dialogue“ heißt das Zauberwort.
„Wenn du sie ansprichst, wird sie sich erst mal wehren, aber du läßt nicht locker, erzählst ihr, daß du aus Deutschland kommst und nirgends eine so schöne Frau gesehen hast wie sie. Und daß du sie heiraten willst – du kannst ruhig lügen! Wenn alle Worte richtig zueinander finden, das nennt man den Dialog. Am Ende wird sie einwilligen und du kannst alles mit ihr machen.“ Lachend fügt er hinzu: „Was du auch suchst, im mysteriösen Timbuktu wirst du es finden.“
Ich bin da nicht so sicher. Für die Weißen war Timbuktu immer Enttäuschung. „Bei Sonnenuntergang erreichten wir Timbuktu“, notiert der Franzose René Caillié am 20. April 1828. „Das Betreten der geheimnisvollen Stadt, die Gegenstand der Neugier und des Forschens der zivilisierten Nationen Europas ist, war mir eine unbeschreibliche Genugtuung. Nie zuvor hatte ich etwas Ähnliches verspürt. Wie viele Dankgebete stieß ich hervor für den Schutz, den mir Gott während der schier unüberwindlichen Hindernisse und Gefahren gewährt hatte! Als ich nun jedoch um mich schaute, entsprach der Anblick in keiner Weise meinen Erwartungen. Dem ersten Blick bot die Stadt nichts weiter als eine Ansammlung schäbiger Lehmhäuser.“
Mansa Moussa, Herrscher von Mali, hatte 1324 auf dem Weg nach Mekka in Kairo Station gemacht und dabei so viel Gold unter die Leute gebracht, daß der Goldpreis für Jahre abstürzte. Seitdem kursierten in Europa die wildesten Gerüchte über jene phantastische Stadt, die zum ersten Mal im 14. Jahrhundert unter dem Namen Tembuch in einem katalanischen Atlas auftauchte. Von prächtigen Palästen mit goldenen Dächern ging die Rede, unerreichbar irgendwo hinter Ozeanen aus Sand. Doch als die Europäer die verbotene Stadt am Südrand der Sahara 500 Jahre später endlich erreichten, mußten sie feststellen, daß das afrikanische Eldorado eine Schimäre war.
Heute gilt Timbuktu selbst in Mali als letzter Winkel. Immer noch führt keine Asphaltstraße von der Hauptstadt Bamako in den kargen Norden. Der Markt ist ärmlich. Mit dem Wind dringt der Sand durch alle Ritzen, weht die Gassen zu. Ganze Karrees liegen in Ruinen, vom Regen weggewaschen.
„Die Leute sind woandershin, um Arbeit zu suchen“, erzählt mir die alte Dame, bei der ich ein Zimmer genommen habe. „Hier gibt es keine Arbeit.“ – „Aber trotzdem leben die Leute“, werfe ich ein. „Ja“, meint sie, „das ist das Mysterium von Timbuktu.“
Bei Sonnenuntergang auf einer Düne im Osten der Stadt. Um mich herum nur die Rundhütten der Bela, der ehemaligen Sklaven der Tuareg. Dahinter gleich die Wüste: Sand und dürres Gestrüpp. Vor mir schachteln sich die Lehmhäuser der Stadt, dazwischen ein paar magere Bäume, drüben die Moschee von Sankor mit ihrem holzgespickten Minarett aus Lehm.
Frauen stampfen Getreide, Männer hocken in ihren blauen und weißen Boubous plaudernd im Sand, den Kopf mit Tüchern umwickelt, die nur das Gesicht freilassen. Ziegen meckern, Esel schnauben, Hähne krähen, Kinder toben im spärlich werdenden Tageslicht. Ein Radio plärrt Koranverse, und über allem färbt sich der Himmel violett und rot.
Im 15., 16. Jahrhundert, unter der Herrschaft der Songhai, war Timbuktu eine kosmopolitische Handelsstadt, profitierte von seiner Grenzlage zwischen Nord- und Schwarzafrika. Salz aus der Wüste wurde gegen Gold aus dem Süden getauscht, Stoffe gegen Sklaven. Händler aus Marrakesch, Fes und Tripolis ließen sich hier nieder, aus Oualata, Agadez und Kano. Von Flußschiffen wurden die Handelsgüter auf Wüstenschiffe verladen und umgekehrt: Hafen der Wüste. Timbuktu war Umschlagplatz. Die Händler füllten ihre Depots, wenn die Ware günstig war, und warteten ab, bis die Preise wieder stiegen.
Nomadische Viehzüchter und seßhafte Ackerbauern trafen hier aufeinander, Hellhäutige und Schwarze. Neben den Songhai ließen sich Araber, Tuareg, Berber, Fulbe und andere nieder. Sie handelten, sie führten Kriege um die Macht, und sie heirateten untereinander. Timbuktu wurde zum Schmelztiegel, geeint durch den Islam, der auf den Handelsrouten nach Schwarzafrika gelangte.
DjingereBer, die große Moschee, am Freitagmittag. In dem gewaltigen Lehmbau, im 14. Jahrhundert von einem andalusischen Architekten gebaut, kommen die Männer Timbuktus zum Gebet zusammen. In das Hauptschiff, von einem Wald meterdicker Säulen getragen, fällt nur spärliches Licht. Matten liegen auf dem Sand ausgebreitet. In ihren traditionellen Gewändern, den bestickten Boubous, knien die Männer nieder, verbeugen sich murmelnd und seufzend gen Osten.
„Eines Tages ist unser Prophet Muhammad nach Timbuktu gekommen.“ Der kleine Muhammad erzählt gerne Geschichten. „Er will gerade beten, aber ein Hund kommt und bellt ihn an. Da ist Muhammad weitergezogen, bis nach Mekka. Und als er starb, wurde er dort begraben. Sonst wäre Timbuktu Mekka geworden. Aber nun ist es Timbuktu. Die Hunde haben alles verdorben.“
Kein Mekka also. Damit hadern sie noch immer. Immerhin war Timbuktu Brückenkopf des Islam südlich der Sahara, geistiges Zentrum. 20.000 Studenten sollen damals bei den besten Lehrern der Epoche neben dem Koran und dem Arabischen Rhetorik, Logik, Geschichte, Recht, Medizin und Astronomie studiert haben. Wohlstand und Bildung gehörten zusammen, Bescheidenheit zum guten Ton. Stadt der 333 Weisen, sagen sie noch heute, heilige Stadt.
1591 aber schickte der Sultan von Marrakesch ein Heer durch die Wüste, um den Nigerbogen zu erobern. Angeführt von maurischen Soldaten, die aus Spanien vertrieben worden waren, überlegen durch ihre Feuerwaffen, eroberten sie die ganze Region.
Um seine Macht zu festigen, ließ der Sultan zwei Jahre darauf alle führenden Familien Timbuktus zusammen mit über tausend Sklaven und Tausenden von Kilo Gold nach Marokko deportieren. Damit war die Blütezeit Timbuktus beendet.
Ahmed Baba war der einzige Gelehrte, der aus dem marokkanischen Exil nach dreizehn Jahren zurückkam. Im „Centre Ahmed Baba“ werden heute Tausende von Manuskripten archiviert, in denen die Geschichte Timbuktus dokumentiert ist. Doch es fehlt an Geld. Die Schriften, deren älteste aus dem 13. Jahrhundert stammt, lagern in einfachen Glasschränken, der Witterung und Schädlingen ausgesetzt.
Bis zum Frühjahr 1996 war an Reisen nicht zu denken. Es herrschte Krieg im ganzen Norden Malis und des Niger. Nomadische Tuareg und Araber hatten sich erhoben, um gegen ihre Benachteiligung durch die Zentralregierung anzugehen. Schon bei der ersten verheerenden Dürre Anfang der 70er Jahre war ein Großteil ihrer Tiere eingegangen. Durch die klimatischen Veränderungen in der Sahelzone brach ihre alte Lebensgrundlage immer weiter ab. Hilfe aus dem Ausland aber verschwand in den Taschen der Funktionäre, die aus dem schwarzen Süden Malis stammten.
Wir stapfen durch die Dünen hinter den beiden Hotels westlich der Stadt. Plötzlich Skelettreste im Sand, ein paar Kleidungsfetzen. Vor Jahren wurden die Leichen hier hingeworfen. Wer sie sind? Peaux rouges jedenfalls, Rothäute, erklärt Muhammad. Araber also oder Tuareg. Er ist sich sicher, daß ein Händler vom Markt dabei ist, den die Militärs den Leuten zum Lynchen gegeben haben. Und er weiß auch, daß das richtig war, denn die Peaux rouges, die Hellhäutigen, wollten die Schwarzen unterwerfen.
Timbuktu war nur Nebenschauplatz der Kämpfe, doch ein Raketenangriff durch die Rebellen genügte, um das fragile Zusammenleben der Ethnien zu zerstören. Es folgte ein Pogrom an den hellhäutigen Händlern, soweit sie nicht Hals über Kopf flüchteten. Viele kamen in der Wüste um, der größere Teil rettete sich nach Mauretanien, Algerien und Libyen.
Seit Frühjahr 1996 herrscht Frieden, der maßgeblich durch Vermittlung deutscher Entwicklungshelfer zustande kam. Die meisten Flüchtlinge sind inzwischen zurückgekehrt. Internationale Organisationen geben Starthilfe.
Doch in vielen Köpfen geht der Krieg weiter. Tuareg und Araber trauen sich nicht, offen über die Rebellion zu sprechen. Treffen sind konspirativ. Die Schwarzen wiederum wollen nichts mehr davon hören, wollen Gras über die ganze Sache wachsen lassen, anstatt Wunden aufzureißen.
Dabei sind die ethnischen Demarkationslinien gerade in Timbuktu alles andere als eindeutig. Unter den Schwarzen ist niemand, der nicht gemischtes Blut in seinen Adern hätte. Im Hause einer Songhai-Familie zum Beispiel ist die Mutter hellhäutig wie eine Araberin, eine der Großmütter war Tuareg, doch die Tochter meint: Die Weißen haben ein schwarzes Herz, wir dagegen sind schwarz, aber haben ein weißes Herz.
Vielleicht liegt es am Krieg, daß die Stadt einen verschlossenen Eindruck macht. Vielleicht haben zu viele Leute noch Leichen im Keller. Und Angst. Denn im Nachbarstaat Niger flammen immer wieder Kämpfe auf. Auch im östlichen Mali kommt es bisweilen zu Überfällen. Ob der Friede in Timbuktu hält, hängt vor allem davon ab, ob es zu einer wirtschaftlichen Entwicklung der Region kommt. Das allerdings ist zweifelhaft.
Auf den Reisfeldern am Fluß wird gerade die Ernte eingebracht. Die Büschel werden mit der Sichel geschnitten, die Garben zum Dreschplatz geschleppt und dann gemeinsam mit langen Stöcken im Takt geschlagen, bis das Korn aus den Ähren springt.
Viele Leute in Timbuktu bewirtschaften hier ein Stück Land. Und immer neue bewässerbare Flächen werden angelegt und unter der Bevölkerung aufgeteilt. Jede Familie erhält die Chance, hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist die einzige Tätigkeit mit Zukunft, doch viele der alten Songhai-Familien halten sich da heraus:
„Weil sie keine Bauern sind“, erklärt meine Vermieterin. „Hier tut jeder seine Arbeit. Man macht das, was der Vater gemacht hat. Wenn dein Vater Schreiner ist, wirst du auch Schreiner. Wenn dein Vater Marabout ist, Schriftgelehrter, wirst du auch Marabout.“
Die Handwerker sind in Zünften organisiert, die ethnischen Hauptgruppen – Songhai, Tuareg und Araber – in Adel und Leibeigene unterteilt, und diese ewige Ordnung wird von Generation zu Generation weitervererbt.
Bis heute weiß jeder, wo er hingehört in der ständischen Hierarchie. „Ein Adliger kann doch keinen Sklaven heiraten“, erklärt mir Diahara, Tochter einer großen Kaufmannsfamilie. „Dann sind deine Kinder ja Sklaven!“
Doch gegen die veränderte Wirklichkeit hilft auf Dauer kein Standesdünkel. Denn während viele der angesehenen Songhai-Familien verarmen, kommen heute auch Bela zu Geld, bekleiden führende Posten in der Verwaltung. Seit 1996 gibt es auch Fernsehen in der Stadt. Die Jungen widersetzen sich den Traditionen, die mentale Enge treibt viele aus der Stadt.
Ich sitze unten bei der alten Dame im Haus. Wie die meisten Frauen betreibt sie einen kleinen Handel. Oft hockt sie still auf ihrer Matte im Halbdunkel des Eingangsraums und läßt die Zeit ver-streichen. Ab und an kommt jemand herein, kauft Streichhölzer, Tee oder etwas Zucker oder irgendwelche Zutaten zum Kochen wie Karitbutter, Tamarinden und Baobab- Früchte. Der Verdienst ist so gering, daß sie selbst darüber lacht. „Es bringt nichts ein. Ich lebe von dem Geld, das mir meine Kinder aus Bamako schicken. Vom Handel allein kann ich nicht leben.“ Das Haus verläßt sie nur selten. Frauen aus gutem Hause bleiben zu Hause. Auch zum Markt geht sie nur, weil sie als Witwe anders nicht an Ware gelangt. So kennt sie die Stadt kaum. Den arabischen Stadtteil im Norden der Stadt, wo die Karawanen ankommen, hat sie noch nie gesehen. In die Wüste hat sie nie einen Fuß gesetzt.
Meine Unruhe amüsiert sie. Wie ich versuche, etwas herauszufinden über dieses Leben. Nur um zu merken, daß die einstmals verbotene Stadt sich auch heute nicht preisgibt. Daß die Leute mir zwar alles mögliche erzählen, aber nicht unbedingt das, worauf es ankommt. Statt dessen haben sie längst den Spieß umgedreht und mich zum Gegenstand ihrer Beobachtung gemacht. Toubab-Entertainment nannte das Christy. Das klingt witziger, als es ist.
Vielleicht hätte ich einfach unten bei ihr bleiben sollen: dem gleichförmig langsamen Zerrinnen der Zeit lauschen und alles andere vergessen; einfach teilnehmen am täglichen Leben. Vielleicht hätte sich dabei das Mysterium offenbart. Für Augenblicke wenigstens. Im Lachen der Alten. In der Stille, die bisweilen auf eine meiner Fragen folgt. Oder im Singsang der Garibous, der kleinen Koranschüler mit den kahlgeschorenen Köpfen und den staubgrauen Gesichtern. Von ihrem Marabout losgeschickt, ziehen sie von Haus zu Haus, singen die heiligen Verse. Eine alte Tomatenmarkdose baumelt an einer Schnur vom Handgelenk, in die die Alte ein bißchen Getreide wirft, einen Rest Essen, wenn etwas da ist...
Aber vielleicht ist das Mysterium ebenso eine Schimäre wie die goldenen Paläste, die die Europäer suchten. Den kleinen Muhammad jedenfalls hält hier kein Mysterium: „In Europa fahren selbst die Armen Auto. Hier hast du nicht mal einen Esel, wenn du arm bist. Ihr seid sauber. Das ist Zivilisation. Hier läufst du immer dreckig herum. Und die Fliegen! Bei euch gibt es Mittel gegen Insekten. Wenn ich kann, geh' ich auch.“
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