"Wie in einem Schlund"

■ Straßenkinder, Dracula, Folklore: Wo liegt Rumänien? Die Leipziger Buchmesse, Ende dieses Monats, will ein Rumänienbild jenseits der Klischees vermitteln. Ein Gespräch mit Herta Müller über Revolution, Kunst und Int

taz: Auf Abbildungen der rumänischen „Revolution“ vom Dezember 1989 sieht man die Intellektuellen immer in der ersten Reihe stehen: den Schriftsteller Mircea Dinescu zum Beispiel, den Schauspieler und heutige Kulturminister Ion Caramitru und den Regisseur Sergiu Nicolaescu. Heute sind die rumänischen Intellektuellen von der politischen Bühne verschwunden. Warum?

Herta Müller: Sie sind so schnell aus der ersten Reihe verschwunden, wie sie in die erste Reihe kamen. Als Dinescu in den letzten Ceaușescu-Wochen unter Hausarrest stand und er sich entschloß, ein Interview für eine französische Zeitung zu geben, war das seine erste politische Äußerung. Dinescu war kein Dissident im eigentlichen Sinne, Rumänien hat keinen Václav Havel. Der Sturz Ceaușescus war eine Art Blitz aus dem Nicht- mehr-Können heraus – anders als in der Tschechoslowakei, in Polen oder in Ungarn, wo es eine langjährige Opposition gab und die Tradition des dissidentischen Intellektuellen. Man hat eben die Personen genommen, die da waren, zum Beispiel Mircea Dinescu, und man trug ihn nach dem Sturz Ceaușescus auf den Schultern. Dinescu war dieser Rolle auch nicht gewachsen. Im Schriftstellerverband, den er übernahm, änderte sich nichts. Er hat die plötzliche Metamorphose von einem gewöhnlichen Bürger in eine Spitzenposition nicht verarbeiten können. Diese unschönen Privilegien, deren er sich bediente, haben mit einem demokratisch denkenden Intellektuellen, der etwas verändern möchte, nicht viel zu tun. Es sah für mich so aus, als wäre jemand der Meinung, jetzt bin ich dran, jetzt ist die Reihe an mir. Es war das Parvenuehafte an ihm, das mich traurig machte.

Woran lag es, daß über diesen eruptiven Ausbruch des Dezember 1989 hinaus kein utopisches Denken über ein wirklich anderes Rumänien stattfand? War die Alternative nach Ceaușescu gar nicht mehr denkbar?

Ich glaube, es hängt mit dieser plötzlichen Veränderung zusammen. Es war keine Revolution, aber es wurde geschossen. Es sind Menschen gestorben, dadurch entstand vielleicht die Emotionalität einer Revolution. Die Rumänen haben eine andere Unmittelbarkeit zwischen sich und ihrer Umgebung. Das hat auch die Möglichkeit zugelassen, daß sie sich unter Ceaușescu mehr unterdrücken ließen und daß diesem Druck ein stärkeres Aufatmen folgte. Aber nach dem das alles verflogen ist, stand man vor einem Schutthaufen. Es gab keine Analyse der Gesellschaft, kein Nachdenken über die Zusammensetzung der Dinge, die diese Diktatur prägten. Statt dessen Eitelkeiten, Religiositäten, Mystizismus, Genialitätsvorstellungen. Der Großteil der Intellektuellen schwebte einige Zentimeter über dem Erdboden. Es gehört sich nicht als „Genie“ – das Wort ist ungeheuer verbreitet in Rumänien –, sich mit den dreckigen, kurzlebigen Dingen der Alltagspolitik zu beschäftigen. Das hat Tradition in Rumänien. Das kann man schon bei Lucian Blaga verfolgen, der schrieb, die Seele des Rumänen ist wie Hügel und Berge, und er vergleicht das dann mit dem Zug der Schafe und den Jahreszeiten. Das sind lauter mythologische, mystische, an den Kosmos der Landschaft angepaßte philosophische Vorstellungen. Dazu kommt auch die unglaubliche Rolle der orthodoxen Kirche, die sich mit Haut und Haar diesem Regime unterwarf und ihre eigenen Priester, wenn diese ins Gefängnis kamen, sofort abgeschrieben und abgestoßen hat. Sie unterschrieb seinerzeit den Abriß ihrer eigenen Kirchen. Wie man heute weiß, war die orthodoxe Priesterschaft hochgradig mit dem Geheimdienst verwickelt. Die Messe in einer orthodoxen Kirche fing mit einem Gebet auf Ceaușescu an. Das spielt alles zusammen, wenn man eine Utopieunfähigkeit untersucht. Die Popen stehen auch heute wieder mit ihrem Weihrauchfaß hinter dem staatlichen Auftrag und schwenken wieder den dicken Rauch.

Hat sich ihr gezwungenermaßen fatalistischer Blick auf Rumänien mit dem Wissen von heute etwas verschoben und differenziert?

Wenn wir von den Intellektuellen ausgehen, so gibt es wieder einige Leute, die den Fuß auf dem Boden behalten wollen. Auf der anderen Seite gibt es eine Allianz der Faschisten und Stalinisten. Der ehemalige Hofdichter Ceaușescus, Adrian Paunescu, ist eine führende Figur des Faschistischen in Rumänien. Sie genieren sich nicht, die Vernichtung der Juden zu loben und die Vertreibung der Ungarn zu fordern, um ein ethnisch gesäubertes Land zu erträumen. Auch die Forderung nach Rehabilitierung des faschistischen Diktators Antonescu wird von einigen Intellektuellen unterstützt. Ich war vor einiger Zeit in Aachen, in einer Ausstellung rumänischer Malerei. Als ich aus dieser Ausstellung kam, dachte ich, ich komme aus einem Gottesstaat, nur diese religiös-düsteren, schicksalhaften Sujets. Keine Spur von rationalem Denken und Reflexion oder Verurteilung der begangenen Verbrechen. Es war wie in einem Schlund, eine Sehnsucht nach Düsternis.

Kann die Politik der jetzigen Regierung ein Klima bieten, um intellektuelles Leben zu reanimieren, oder ist die demokratische Entwicklung eher ein Vakuum?

Ich hoffe nicht, daß die demokratische Entwicklung ein Vakuum ist, das wäre furchtbar. Ich glaube, sie ist schon eine Möglichkeit. Dadurch, daß Constantinescu die wichtige Einladung an alle emigrierten Rumänen ausgesprochen hat, zurückzukehren, könnte ein Potential entstehen. Dadurch, daß diese Leute ihre Erfahrungen des Westens einbringen – eine Fusion von Fachwissen und gesellschaftlichem Denken von Ärzten, Lehrern, Ingenieuren, Zahnärzten und Anwälten. Dadurch kann vielleicht die Befangenheit in der Denkweise der Rumänen aufgebrochen und verändert werden. Man kann ja nicht versuchen, die Leute von oben zur Demokratie zu zwingen, das wäre wieder Ideologie. Es ist jedoch eine Binsenweisheit, daß unsere Toleranz von dem bedingt wird, was wir haben. Die desaströse Armut behindert eben die Demokratie, und das ist in absehbarer Zeit nicht veränderbar. Der Umbau der nach dem Sturz Ceaușescus im Nichts hängenden staatlichen Wirtschaft erzeugt doch wieder persönliches Unglück für die Leute, die arbeitslos werden. Man muß parallel zu diesen Maßnahmen ein soziales Netz aufbauen, das die Leute auffängt, damit sie nicht ins Leere stürzen.

Was kann Kunst in diesem Prozeß leisten?

Möglichkeiten per se für die Kunst gibt es nicht. Alles was zur Möglichkeit wird, geht von einer Notwendigkeit aus. Ich glaube, daß überall in Nachdiktaturen die Frage nach dem, was war, gestellt werden muß. Wie ist das entstanden, und was hat das verursacht? Ich bin mir sicher, daß das ein Thema sein wird in der rumänischen Kunst wie auch in der DDR, in Ungarn, in Chile oder dem Iran. Es sind ja so viele Leute getroffen worden, und ihre ganze Umgebung ist bis zum heutigen Tag verschandelt. Alles, was in Rumänien heute so desaströs ist, ist ja die Folge dieser Diktatur. Bukarest hieß einmal Klein-Paris, Temesvar Klein-Wien, Rumänien war angepaßt an die westeuropäische Kultur, Mode, Musik, Kaffeehäuser. Da wo im Kommunismus um 22 Uhr die ungeheizten Kneipen geschlossen werden, es keine Grundnahrungsmittel gibt, gab es einmal Kultur. Wenn ich mich nur anziehe, um nicht zu erfrieren, habe ich keine Sicht mehr auf ästhetische Bezüge. Genauso war es in der Kunst. Welche Kunst soll denn da noch entstehen? Der ästhetische Bezug für die Literatur kommt ja nicht aus der Literatur, die Ästhetik kommt von allen Dingen der Welt die uns umgeben, bis in die Sprache hinein.

Ähnlich war das mit der Zensur. Man redet immer nur von Zensur, wenn es um Kunst geht. Aber alles Notwendige, das ein Staat einem vorenthält, ist Zensur, auf allen Ebenen. Und diese Zensur widerspiegelt sich auch in der Sprache und in dem, was Künstler tun; sie sind ja eingebunden in alle Bereiche der Existenz. Wenn Menschen sterben, weil man kein Verbandszeug hat oder kein Insulin für Diabetiker, ist es fast unmöglich, eine Notwendigkeit für Kunst zu entdecken, weil viele Leute vergessen haben, wie diese Notwendigkeit aussieht. Sie haben es durch die Diktatur vergessen.

Das Rumänienbild in der Bundesrepublik setzt sich vorrangig aus Dracula, Straßenkindern, Waisenhäusern und Kriminalität zusammen. Es ist eine symbolische Aufladung des Bösen...

Oder das genaue Gegenteil. Ich habe auch schon Leute erlebt, die völlig euphorisch sind. Das ist der westliche Intellektualismus, der sich in der Direktheit der Menschen, die aber aus dem Zwang der Armut und der Diktatur kommt, sehr wohl fühlt. Dafür sind Intellektuelle sehr anfällig. Dazu kommt dann das Moment des Exotischen, des scheinbar Urwüchsigen. Das eine Bild ist so falsch wie

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das andere.

Ist es die Aufgabe der Kunst, ein Bild zu vermitteln, das den Realitäten entspricht und diese Stigmata angreift?

Das muß eine Kunst sein, die ich in Rumänien zur Zeit nicht sehe. Vielleicht entsteht sie gerade, und ich weiß es nicht. Ich wäre sehr froh, wenn ich nicht recht behalte, aber die Kunst, die den Blick auf das Reale lenkt, die sehe ich nicht. Kunst ist nicht nackte Analyse, aber es ist sehr gut wahrzunehmen, ob ein Künstler den folkloristischen Urzustand anhimmelt, der per se nationalistisch wird und fatal provinziell zugleich. Oder ob er politisch die Schicksalsergebenheit vertritt. Beide Haltungen wollen einen Zustand nicht als Ursache und Folge sehen.

Rumänien droht zu ersaufen in einem Konglomerat dieser beiden Extreme.

Beide Haltungen können nur die Bilder bestätigen, die es sowieso schon gibt. Aber bei jemandem, der in der Zeit der bestehenden Diktatur nicht das Bedürfnis hatte, diese Tendenzen zu verlassen, ist es schon fragwürdig, ob er das jetzt hat, ob die aktuellen Positionen sich nicht einfach nur verlängern aus der Position während des Regimes. Man hat ja nur einen Kopf, man kann ja nicht diesen einen Kopf austauschen und etwas anderes hineinsetzen. Es muß ja auch einen Grund geben und auch ein Bedürfnis, zu revidieren und Dinge dann im nachhinein anders zu betrachten als vorher. Aber vielleicht gibt es ja eine Generation von jungen Künstlern, die unbelastet sind. Es gibt zum Beispiel ein Buch von Daniel BÛnulescu, einem jungen rumänischen Schriftsteller, das heißt: „Leck mich am Arsch, Genosse Präsident“. Völlig ironisch und kaltschnäuzig geschrieben, ein Ton, der in der rumänischen Literatur kaum Tradition hat. Es ist vielleicht so wie Brussigs „Helden wie wir“, anders gemacht, aber durch seine Ironie, Distanz und auch Süffisanz genau.

Meinen Sie eine Vitalität, wie man sie zum Beispiel in der tradierten Folklore oder der rumänischen Rockmusik häufig findet?

Die Rumänen haben Humor und Selbstironie, unbedingt, wie man es an der Drastik der Witze immer gemerkt hat. Und vielleicht entsteht aus dieser Dimension wieder etwas. Oder nehmen Sie die wirklich authentische rumänische Folklore, die ist ja poetisch, sozial gebunden und genau. Was ich kenne, sind vor allem die Lieder der Juden oder der Zigeuner, die wirklich kontinuierlich Leben beschreiben, den Säufer und den Pferdedieb und den sitzengelassenen Bräutigam oder die Braut, das Sterben, den Hunger. Dafür gibt es in Rumänien unglaubliche Liedtexte. Ohne Begabung waren diese Texte nicht zu denken. Ein Bauer kann auch ein Dichter sein, es muß sich keiner als solcher definieren, damit er wirklich einer ist. Diese Texte würde es nicht geben, wenn es nicht diese Substanz auch in der Bevölkerung gegeben hätte. Sie wurde nur zugeschüttet.

Was kann eine Buchmesse wie die Leipziger leisten, die sich zum Schwerpunkt setzt, rumänische Literatur zu präsentieren?

Das hängt von Rumänien ab, wie es sich selber darstellt. Wenn die verbreiteten Gesten wie Jammerei und Nationalismus nicht zum Tragen kommen, sondern wenn man sich durchringt, ein facettenreiches, genaues Bild des Landes zusammenzutragen, dann kann das was werden. Und natürlich muß auch der Rückblick auf die Diktatur, also auf die Zeit unter dem Ceaușescu-Regime, eine Facette sein, um alles andere erklären zu können. Ohne das wird man nicht auskommen.

Interview: Sascha Bunge

und Titus Faschina