Die besseren Obdachlosen?

Das Straßenmagazin Hinz & Kunzt: Die Verkäufer, die Bettler und die Spaltung  ■ Von Eva-Maria Schnurr

„Die Scheißbettler.“Karsten ist sauer. „Ich hasse das. Die machen das Geschäft kaputt.“Der kleine, blonde Mann steht in der Eingangshalle des S-Bahnhofs Ohlsdorf. Den Rucksack hat er an eine Säule gelehnt, im Arm hält er einen Stapel Zeitungen. Der 35jährige war bis vor einigen Wochen selber ohne Wohnung. Meist übernachtete er im Wohnheim der Heilsarmee. Karsten verkauft. Für zwei Mark dreißig gibt es bei ihm das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt, das nur von Wohnungs- und Obdachlosen verkauft wird. Pro Zeitung fällt eine Mark zwanzig für ihn ab.

Etwas verloren und sehr schüchtern wirkt der Mann mit der gefütterten Jeansjacke in der zugigen Bahnhofshalle. Karsten preist die Zeitung nicht an, sondern hält sie einfach nur hoch. Passanten grüßt er ab und zu: „Guten Tag“, und manchmal hat er Glück: Dann bleibt jemand stehen und kauft ein Magazin. Sein freundliches, fast bescheidenes Auftreten kommt an. Mit dem Wachdienst der Verkehrsbetriebe hatte Karsten so auch noch keine Probleme. Aber mit den Bettlern. „Wenn ich gerade Kundschaft habe und einer kommt und bittet um Kleingeld, das hasse ich.“

Auch Jürgen Langer mag die Bettler nicht. Die, die sich tagsüber oft am Hauptbahnhof sammeln, Straßenkinder oder Stadtstreicher. Die, die drogenabhängig oder alkoholkrank sind, die verlottert aussehen und schon mal angetrunken herumpöbeln. „Die Bettler schädigen das Renommee der Stadt Hamburg“, wettert Langer. Und genauso wie Karsten meint er: „Außerdem schaden sie dem Geschäft.“

Langer ist Sprecher der Interessengemeinschaft City, der Vereinigung der Kaufleute der Hamburger Innenstadt. Er möchte, daß Betteln in Hamburg zur Ordnungswidrigkeit wird. Doch die Verkäufer der Hinz & Kunzt können bleiben, meint Langer: „Das ist ja ein Projekt, das man durchaus unterstützen kann.“

Für Karsten ist heute ein guter Tag. Nur noch zehn Zeitungen muß er loswerden. Ein Mann tippt ihm von hinten auf die Schulter. Wortlos hält ihm Karsten das Straßenmagazin hin, doch der andere winkt ab. Drückt ihm trotzdem zwei Mark in die Hand: „Geh' man Kaffee trinken.“Karsten steckt das Geld ein, zündet sich eine Zigarette an, geht ein paar kleine Schritte auf und ab.

Bis Dezember kostete Hinz & Kunzt eine Mark achtzig. Seit der Preiserhöhung „sind spontane Käufe weniger geworden“, sagt Toni, der vor Karstadt in der Mönckebergstraße verkauft. Sein Verdienst ist im Durchschnitt um ein Viertel zurückgegangen, obwohl er jetzt mehr Trinkgeld bekommt. „Die Leute spenden lieber 'ne Mark, als daß sie für zweidreißig die Zeitung kaufen“ist seine Erfahrung in den vergangenen Wochen gewesen.

Das Straßenmagazin – von Profis gemacht, mit einer Auflage von fast 100.000 Exemplaren und sogar in Farbe gedruckt – ist seit seiner Gründung im November 1993 zu einer Institution in Hamburg geworden, zur Interessenvertretung der Wohnungs- und Obdachlosen. Die Verkäufer sind so etwas wie die etablierten Obdachlosen der Stadt.

Jeden Morgen um neun geht es los in den Vertriebsräumen in der Curienstraße, gleich hinter dem Redaktionshaus der Zeit. Für eine Mark zehn pro Stück bekommen die Verkäufer hier ihre Zeitungen. Olaf stapft die Treppe hoch. Der ehemalige Computerhändler aus Berlin, der nach einer gescheiterten Beziehung auf der Straße stand, will seinen Frust loswerden: Heute morgen haben ihn Schwarze Sheriffs aus dem U-Bahnhof rausgeworfen. „Ich verkaufe da seit Monaten, die haben bisher noch nie etwas gesagt.“Äußerlich bleibt Olaf ruhig, doch die Sache kratzt an seinem Stolz. Gut, daß Mike Schwalbe ihm helfen kann. Aus einer Schublade zieht der Vertriebsmitarbeiter ein Blatt Papier und reicht es Olaf: Eine Verkaufsgenehmigung für den U-Bahnhof. Privilegien der Hinz & Kunzt-Mitarbeiter, die andere Obdachlose nicht haben.

Olaf erlebt solche Vorteile täglich: Er verkauft an der Sternschanze, wo besonders viele Junkies herumhängen. „Ich darf immer die Toilette vom Kiosk benutzen. Die anderen dürfen das nicht.“Olaf ist froh, daß er nie betteln muß. Er weiß: Wer Hinz & Kunzt verkauft, ist so was wie ein Aufsteiger unter den Wohnungslosen, hat Chancen, von der Straße wegzukommen. Olaf selbst hat vor kurzem eine Wohnung gefunden, spart jetzt für einen größeren Urlaub und hat einen festen Job in Aussicht. Eine Musterkarriere.

„Wir wissen, daß wir eine Spaltung der Obdachlosenszene verursacht haben. Bei vielen Bürgern gelten die Zeitungsverkäufer als die besseren Obdachlosen, und das geht natürlich auf Kosten derjenigen, die betteln“, gibt Vertriebsmitarbeiter Mike Schwalbe zu. Zu Beginn des Projektes hat damit niemand gerechnet. „Es ist Scheiße, aber was sollen wir tun. Verkaufen kann bei uns jeder.“

Rund 400 der ungefähr 6000 Hamburger Wohnungslosen sind regelmäßig mit der Zeitung unterwegs. Doch Schwalbe räumt ein, daß für viele Obdachlose selbst dieser Schritt schon zu groß ist. „Manche sind körperlich so fertig, daß sie gar nicht mehr verkaufen können. Wenn jemand erst mal ganz unten ist, ist es doppelt schwierig, die Kurve wieder zu kriegen.“

Olaf und auch Mike selbst haben es geschafft. Solche Biographien beeindrucken Geschäftsleute von der Interessengemeinschaft City. Erfolg scheint möglich. Hinzu kommt das saubere Image der Hinz & Kunzt, auf das die Zeitungsleute viel Wert legen. Drei Betreuer, selbst ehemalige Wohnungslose, sind jeden Tag unterwegs und kontrollieren, ob die anderen Hinz & Kunztler an den richtigen Plätzen stehen, ob sie ihren Verkaufsausweis tragen und nichts Verbotenes tun: die Zeitung in den Zügen der S- oder U-Bahn verkaufen oder angetrunken mit dem Magazin handeln. „Und wenn jemand zu sehr stinkt, dann sage ich ihm das auch mal“, sagt einer der Betreuer, selbst auch Verkäufer. Er kommt heute auf seiner Tour bei Karsten in Ohlsdorf vorbei.

„Alles in Ordnung?“will er von Karsten wissen und bietet ihm eine Kippe an. Karsten nickt, erzählt dann aber doch kurz von seinem Ärger über die Bettler. Der Betreuer kennt das Problem: Wenn ein Bettler in der Nähe ist, schreckt das Kunden oftmals ab. Jäh wird ihr Gespräch unterbrochen: Ein Handy piepst. Der Betreuer greift in die Tasche seiner Jeansjacke und holt sein Mobiltelefon heraus. Das Gerät schon am Ohr, verabschiedet er sich von Karsten: „Ich muß weiter. 'n guten Tag noch, und vergiß nicht, Mittagspause zu machen.“