Moralische Skizzen

■ Über die Notwendigkeit, den geistigen Schließmuskel beherrschen zu lernen: Ein Band mit vier zeitdiagnostischen Texten von Umberto Eco

Wie schwer es ist, in Zeiten verlorener Unschuld ein veritables Liebesgeständnis zu machen, darüber hat Umberto Eco in der Nachschrift zu seinem Roman „Der Name der Rose“ spekuliert. Der Umweg über die Literatur kann Abhilfe schaffen. Sagt man nämlich ironisch wissend: wie jetzt Hedwig Courths-Mahler sagen würde, „ich liebe dich inniglich“, dann ist die Gefahr, etwas Triviales zu sagen, dadurch gebannt, daß man es als Trivialität zitiert. Eine falsche Unschuld ist vermieden, das Unvermeidliche doch gesagt.

Mit derlei Strategien, etwas zur Sprache zu bringen, ist der Semiotikprofessor und Bestsellerautor Umberto Eco noch immer befaßt. Der schmale Band „Vier moralische Schriften“ trägt nicht zuletzt den widersprüchlichen Formen der moralischen Rede Rechnung. Wenn Eco seine Schriften ironisch wissend moralisch nennt, sollte man darauf gefaßt sein, daß sie alles andere sind. Es geht nicht um Moral, sondern um die Themen der Moral. Im eben noch einmal durch Diplomatie abgewendeten Golfkrieg tauchte einmal mehr die Frage auf, warum die Intellektuellen zum Aufmarsch der Amerikaner gegen den Irak schwiegen. So ähnlich lautete schon einmal 1991 anläßlich des bevorstehenden Golfkrieges die Fragestellung, der Eco seinen Aufsatz „Nachdenken über den Krieg“ gewidmet hat. In der öffentlich ausgetragenen Konfrontation standen sich schließlich Interventionisten und Pazifisten alten Schlages gegenüber. In beiden Fällen, so Eco, „haben wir gewiß einer Debatte zwischen professionellen Intellektuellen beigewohnt, nicht aber einer Ausübung der intellektuellen Funktion“. Diese besteht für Eco in der kritischen Sichtung und Bestimmung dessen, was als hinreichende Annäherung an den eigenen Begriff der Wahrheit angesehen werden kann. Das einfach klingende Prinzip kann rasch durch einen hoch privilegierten Schriftsteller verraten werden, wenn er auf die Ereignisse „nur mit Leidenschaft reagiert, ohne sich der Mühe des nüchtern abwägenden Nachdenkens zu unterziehen“. Den Vorwurf will sich Eco nicht machen lassen. Die Bedingungen für einen Krieg, so stellt er fest, haben sich radikal verändert, und das keineswegs nur zum Schlechten. Nie zuvor war nämlich die Haltung der Welt zum Krieg so negativ wie jetzt. Wenn heute jemand „von der Schönheit des Krieges als einziger Hygiene der Welt reden würde, ginge er nicht in die Geschichte der Literatur ein, sondern in die der Psychatrie“. Daß trotzdem noch Kriege befürwortet werden, betrachtet Eco als Mißgeschick, auf das in Zukunft noch mehr intellektuelle Funktion verwandt werden muß. In diesem Sinne versteht Eco den Kalten Krieg keineswegs als finstere Nachkriegszeit, sondern als zivilen Fortschritt. „Sooft er auch Gelegenheit zu Greueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz, lokalen Konflikten und diffusem Terror geboten hat – am Ende wird die Geschichte zugeben müssen, daß der Kalte Krieg eine sehr humane und relativ sanfte Lösung war.“ Ecos Moral von der Geschichte dürfte nicht zuletzt auch für Pazifisten anstrengend sein.

Die „Moralischen Schriften“ sind Aufsätze zu aktuellen Ereignissen der letzten sieben Jahre. Eco reflektiert über den Fall Priebke wie über den in Italien aufkeimenden Rassismus, als 12.000 Albaner ins Land kamen. Sein Blick auf die Welt ist geerdet durch die Arbeit am Begriff. So unterscheidet er Migration von Immigrationsphänomenen. Während letztere sich kontrollieren, begrenzen oder fördern lassen, ereignen sich Migrationen wie Naturphänomene. Sie sind nicht aufzuhalten. Eco ist einer reservierter Beobachter, der es gelassen nimmt, daß Europa ein farbiger Kontinent werden wird. „Wenn es uns gefällt, um so besser, wenn nicht, wird es trotzdem so kommen.“ Die Rassisten, folgert er, müßten eigentlich eine aussterbende Rasse sein.

Die „Vier moralischen Schriften“ sind zeitdiagnostische Skizzen, Fingerübungen zum Wachhalten der intellektuellen Funktion. Sie leben nicht minder vom originellen Einfall wie von der Fähigkeit zur grundsätzlichen Unterscheidung, das Handwerkzeug des Kritikers. Wo andere den „Kampf der Kulturen“ (Huntington) heraufbeschwören, gibt sich Eco als nüchterner Dezisionist. Fundamentalismus, Integralismus und pseudowissenschaftlicher Rassismus sind theoretische Positionen, die eine Doktrin voraussetzen. Letztendlich, so meint er, lassen sich die Probleme damit durch eine Art permanente Erwachsenenbildung in den Griff bekommen. Der Unterschied bestehe darin, daß Kinder von einem bestimmten Alter an lernen, ihren Schließmuskel zu beherrschen. In Fragen der Toleranz müsse eben auch Erwachsenen immer wieder Übungsleistung abverlangt werden. Schwieriger steht es um eine rohe Intoleranz, die ohne Doktrin daherkommt. „Die schlimmste Intoleranz ist die der Armen, die immer die ersten Opfer der Verschiedenheit sind. Unter den Reichen gibt es keinen Rassismus. Die Reichen haben höchstens die Doktrinen des Rassismus produziert, die Armen produzieren seine Praxis, die viel gefährlicher ist.“ Ecos publizistische Gelegenheitsarbeiten geben keine letzten Antworten, aber es sind gute Trainingseinheiten zur Förderung der intellektuellen Funktion. Harry Nutt

Umberto Eco: „Vier moralische Schriften“. Hanser Verlag, München 1998, 120 Seiten, 24 DM