Raus aus den Fauteuils!

■ "Berliner Ermittlung" - Anhand des Textes von Peter Weiss über den Auschwitz-Prozeß wollen Esther und Jochen Gerz in Berliner Theatern "den Raum des Täters neu definieren"

Auf der Probebühne des Berliner Ensembles trafen sich Ende Februar etwa fünfzig Menschen. Menschen, die sich auf ein Schreiben gemeldet hatten, das Anfang des Jahres von drei Berliner Theatern – Volksbühne, Hebbel Theater und Berliner Ensemble – in Umlauf gebracht wurde. Diese Theater hatten ihre Besucher eingeladen, als Akteure an einem Theaterprojekt der Konzeptkünstler Esther und Jochen Gerz mitzuwirken. Nun sind sie gekommen, um zu erfahren, worauf sie sich eingelassen haben. Ein Kamerateam beobachtet sie dabei.

Nur Eingeweihte wissen schon: Ein großes Kulturereignis ist im Anflug auf die deutsche Hauptstadt, das die Berliner ebenso beeindrucken soll wie die Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne Claude. Sein Thema ist überlebensgroß, denn es handelt vom millionenfachen Tod. Es wird in drei Theatern stattfinden und auf weiteren, sogenannten ausgeklappten Bühnen: „Wir spielen das Stück auch deshalb, weil wir es bekannt machen wollen“, sagt Jochen Gerz zu den Leuten, die jetzt im großen Halbkreis um ihn, um seine Frau und den Regisseur Lukas Hemleb herum sitzen. „Stellen Sie sich vor, Sie sollen die Werbung so machen, daß diese Werbung ein Teil des Stückes wird. Dann würde das Stück nicht bloß im Theater, sondern auch im Radio, in der Zeitung, im Fernsehen stattfinden.“

Thema und Material des Stückes, um das es hier geht, ist der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, der von Dezember 1963 bis August 1965 als „Strafverfahren gegen Mulka und andere“ vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main verhandelt wurde. Mulka und andere, das waren Aufseher und Ärzte, die im Konzentrationslager Auschwitz an den Verbrechen beteiligt waren, für die seitdem der Name des KZs Synonym ist. Es geht um „Die Ermittlung“ von Peter Weiss.

Weiss hatte als Beobachter diesen Prozeß verfolgt und Richterfragen, Aussagen von Zeugen und Angeklagten, Verteidiger- und Anklägerplädoyers zu einem Stück montiert, das zwei Monate nach der Urteilsverkündung im Oktober 1965 von fünfzehn Theatern gleichzeitig herausgebracht wurde. „Von all dem kann auf der Bühne nur ein Konzentrat der Aussage übrigbleiben. Dies Konzentrat soll nichts anderes enthalten als Fakten“, schrieb Weiss über sein Drama, das er im Untertitel Oratorium nannte. Elf jeweils dreiteilige Gesänge mit Verszeilen, die von einem bis acht Worten reichen, die Weiss fast unverändert aus Gerichtsprotokollen und Prozeßberichten übernahm. Weiss' Text beginnt mit dem Gesang von der Rampe, Gesang vom Lager und führt durch die Topographie von Auschwitz bis zum Gesang vom Zyklon B und dem Gesang von den Feueröfen.

Und so beginnen also nach einer kurzen Einführung die Zuschauer mit den Proben. „Wir wollen“, sagt ihnen Jochen Gerz, „daß es in der ,Berliner Ermittlung‘ keine Schauspieler gibt.“ Auch Zuschauer soll es nicht geben. „Jeder“, fährt Gerz fort, „der in das Stück kommt, soll das Stück selbst werden, selbst sein. Weil es keine Zuschauer gibt in der Geschichte. Sonst wäre es nicht dazu gekommen.“ Kopien des Stücktextes werden verteilt. Dann wird gelesen.

Immer einer liest eine Verszeile, dann ist der nächste dran: „Als wir über die Gleise gegangen waren / und vor dem Lagereingang warteten / hörte ich / wie ein Häftling zu einer Frau sagte / Der Rotekreuzwagen fährt nur das Gas / zu den Krematorien / Dort werden eure Angehörigen getötet / die Frau begann zu schreien...“ Später wird der Text weiter im Chor gesprochen, und irgendwann setzt sich Lukas Hemleb, der hier als Spielleiter fungiert, ans Klavier und studiert mit den Leuten zwei Verse als Kanon ein. Und all die Leute, die sich nie zuvor getroffen haben, sprechen und singen so schön, so voller Andacht. Denn was in diesen Texten zur Sprache kommt, das ist so fürchterlich, daß es den, der das liest und hört, ja wirklich noch erreichen und berühren kann. In solche Tiefen dringt wenig von dem, was der Kulturbetrieb heutzutage produziert. Höchstens vielleicht der Untergang der Titanic. Von der Stimmung dieser ersten Proben konnte man nun beeindruckt sein oder aber von Unbehagen erfüllt, daß hier eine Theaterprobe plötzlich den Geschmack einer Therapie-Sitzung bekam, wo die Nachfahren der Täter in die Rollen der Opfer, der Auschwitz-Häftlinge, schlüpften.

„Wieso Auschwitz-Häftlinge? Wo sind die denn? Das Ganze ist ein Stück. Das ist doch ein Stück!“ sagt Jochen Gerz später – etwas verärgert über die Begriffsstutzigkeit der Fragerin, die offensichtlich die Spielregeln hier nicht ganz begreift. „Und du denkst, wenn man ins Theater geht und Schauspieler sprechen das Stück, das ist o.k.?“ fragt Esther Gerz zurück. Berlin sei außerdem eine internationale Stadt, und auch Ausländer hätten an den Veranstaltungen teilgenommen. Im Stück würde es später einen Kinder- und einen Ausländerchor geben.

Jochen Gerz: „Noch viel weniger wäre es ja, wenn du ins Theater gehen würdest, dir ein Ticket kauftest und dann dir das Ding von einem Profi runterlesen lassen würdest, um dann hinterher zu sagen: sehr berührend! Also, diese deutsche Spezialnummer ,Betroffenheit‘, die wollen wir ja gerade verhindern.“ Es ginge hier eben nicht darum, ein Mysterienspiel zu machen, in dem sich die Zuschauer verlieren könnten, wie das im Theater sonst geschähe. „Sondern wir wollen der Fiktion den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Leute herauslassen aus ihren Fauteuils und ihnen mal die Möglichkeit geben, mehr zu tun, ein bißchen mehr zu entscheiden. Letztlich: Es gibt kein Stück ohne sie.“

Raus aus den Fauteuils müssen die Leute auch deshalb, weil diese passive Haltung mitverantwortlich für die Entstehung des Faschismus sei. „Faschismus kommt zustande, wenn viele Leute aus sich selbst desertieren und quasi dieses eine Goldene Kalb, den Diktator, übriglassen. Das hat auch mit unserer Kultur zu tun, wo immer nur einer sprechen kann für die anderen. Faschismus kommt aus der Selbstverneinung, die einfach sehr viele Menschen betreiben. So, wie ich mich letztlich auch vor einem großen Tafelbild verneine. Dann steht da der Künstler, und ich bin die Null, die davorsteht. So stehen wir seit langer Zeit vor den Bildern.“

Mit der ,Berliner Ermittlung‘ soll dieses Verhalten an einem mikroskopisch kleinen Ort, im Theater, durchbrochen werden. „Ich brauche wieder Leute, die in die Mitte gehen und sagen: Ich bin dabeigewesen! Jeder in seiner Rolle würde heute ja einfach wieder das gleiche tun. Weil sie in der Tradition sind: Hier wird gesessen, hier wird zugehört, hier wird irgend etwas über sich ergehen lassen.“ Und mir fällt plötzlich ein, daß einer der beiden Räume, in denen der reale Auschwitz-Prozeß verhandelt wurde, ein umgebauter Theatersaal für Laienspielgruppen war.

Von den Leuten, die zu den ersten Proben kamen, stand keiner auf. Sie lasen brav, und manche ließen sich am Schluß fotografieren. Für die Zeitung, wo Stücktexte im Vorfeld der Aufführung schon publiziert werden sollen. Texte, die nicht als Horrorgeschichten zu identifizieren sein werden, sondern Texte, die die Brücke zu unserer Zeit ermöglichen. Der Name der Fotografierten stand auf einer Tafel unter dem Gesicht, und es sah so aus, als würden hier Bilder für eine Verbrecherkartei gemacht. „Ich will den Raum des Täters neu definieren“, hat schließlich Jochen Gerz gesagt. Doch ein Täter, das kann ja einfach jemand sein, der tut. Und das Sprechen ist wohl auch eine Form der Täterschaft.

Es gibt einen Text von Peter Weiss, der parallel zur „Ermittlung“ entstand und der „Meine Ortschaft“ heißt. Mit dieser Ortschaft ist Auschwitz gemeint, wohin Weiss 1964 im Rahmen eines Ortstermins des Gerichtes gefahren war. „Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam... Ich bin hierhergekommen aus freiem Willen... Ich komme zwanzig Jahre zu spät hierher... Ich gehe durch dieses Grab. Empfinde nichts... Ich hatte es vor mir gesehen, als ich davon hörte und las. Jetzt sehe ich es nicht mehr... ein Lebender ist gekommen, und vor diesem verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer anderen Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt.“

Wahrscheinlich ist es sowieso zu früh, über das Projekt zu schreiben. Wir werden bald sehen, ob das Theater hier als moralische Anstalt neu erfunden wird. Ob es zur Therapie-Einrichtung wird, ob sich hier das Sprechen über Deutschland und die Shoa nun endgültig als Gesellschaftsspiel etabliert. Oder ob es doch ganz anders kommt. Esther Slevogt