Vom „Landesvater“ zum ruhelosen „Macher“

In Nordrhein-Westfalen wird sich etwas ändern: Johannes Rau tritt ab. Die Geschäfte sollen Wolfgang Clement und Franz Müntefering übernehmen. Der rot-grünen Koalition drohen dadurch keine tiefen Risse, sagen die Sozialdemokraten  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Nein, sein Innerstes hat Johannes Rau gewiß nicht nach außen gekehrt. Doch sein Mienenspiel während der gestrigen Pressekonferenz in der Düsseldorfer Staatskanzlei signalisiert nach dem angekündigten Rückzug eher Erleichterung und Gelassenheit als Verbitterung. Bis zur Sommerpause wird Rau den Thron in Düsseldorf für ein Nachfolgeduo räumen.

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement zieht als Ministerpräsident in die Staatskanzlei ein, und SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering übernimmt die Führung der Landespartei. Spätestens Anfang Juni soll der Wechsel vollzogen werden, um gerade noch rechtzeitig, so freute sich gestern SPD-Landesgeschäftsführer Ulrich Wehrhöfer, „einen zusätzlichen Schub für die Bundestagswahl zu schaffen“. Und was wird aus Rau, der wie kein anderer Sozialdemokrat in 28jähriger Regierungszeit – davon fast 20 Jahre als Ministerpräsident – die politische Szene in NRW prägte?

Er fühlt sich zwar „ein Stück weit erleichtert“, doch verschwinden wird er nicht. Zu ausgeprägt ist seine Sucht nach Politik und Macht. Ein Zustand, den er mit dem Essen von Erdnüssen vergleicht. Man nimmt eine „und kann dann nicht mehr aufhören“.

Das Amt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden bleibt dem 67jährigen auf jeden Fall und die Hoffnung, 1999 im zweiten Anlauf endlich Staatsoberhaupt von Deutschland zu werden. Da selbst Schröder ihm in den letzten Tagen die Unterstützung zugesagt hat, könnte der Traum doch noch in Erfüllung gehen — falls Kohl die Wahl verliert. Vielen in der SPD wäre eine jüngere Frau zwar lieber, aber nach dem nun einvernehmlich eingefädelten Rückzug sind die Chancen des Calvinisten aus Wuppertal wieder gestiegen.

Daß er in den vergangenen Monaten immer wieder Berichte lesen mußte, wonach er nur im Amt bleibe, um sein Eisen bei der Bundespräsidentenwahl im Feuer zu halten, hat ihn gekränkt und manchmal so „zornig gemacht, daß die Galle die Funktion des Gehirns“ übernahm.

Die ganze Wahrheit ist das gewiß nicht, denn von vielen Genossen in NRW und im Bund wurde Rau immer wieder bestärkt, nur ja nicht die Brücke zu räumen. Es war der Zweifel am Kurs des designierten Nachfolgers Clement, der die Schulterklopfer plagte. Vor allem dessen kompromißlose Linie gegenüber den Grünen in allen Fragen der Energie- und Verkehrspolitik sorgte in den eigenen Reihen für Distanz. So mancher Sozi traute dem schon als „ewigen Kronprinz“ verspotteten gelernten Journalisten Clement die Führung einer Koalitionsregierung mit den Grünen schlicht nicht mehr zu. Eine große Mehrheit in der NRW- SPD sah das indessen anders. Beim Landesparteitag Anfang Januar stärkte sie Clement überraschend klar den Rücken, während der moderatere Flügel um SPD-Kultusministerin Gabriele Behler erheblich Federn lassen mußte. Doch Ruhe kehrte danach nicht ein.

Ganz sicher war sich Clement trotz aller vertraulichen Gespräche im Führungskreis und aller öffentlichen Schwüre von Rau nie. Zu oft waren mögliche Übergabeszenarien geplatzt. Für eine neue Dynamik sorgte dann der Ausgang der Niedersachsenwahl, die nicht nur die Entscheidung über den SPD- Kanzlerkandidaten brachte, sondern zugleich Schröder-Freund Clement einen Schub in Richtung Thronfolge bescherte. Rau, bis zum Wahltag ein ausgemachter Schröder-Gegner, kam zusehends unter Zugzwang, weil der ungeliebte Kanzlerkandidat aus Hannover Clement liebend gern in seine Regierungsmannschaft übernommen hätte. Die Übergabe im Sommer hatten Rau, Finanzminister Schleußer und Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering mit Clement zwar schon im vergangenen Advent bei Rau besprochen, aber ohne definitive Festlegungen seitens des Parteipatriarchen. Erst in der vergangenen Woche beseitigte Rau im Gespräch mit seinem langjährigen persönlichen Freund letzte Zweifel.

Daß die Partei die Entscheidung mit großer Geschlossenheit über alle Flügel und Grüppchen hinweg absegnen wird, steht fest. Dazu trägt die Ämtertrennung bei, denn mit Franz Müntefering übernimmt ein Genosse den Parteivorsitz, der auch bei den parteiinternen Clement-Kritikern über ein hohes Maß an Zustimmung verfügt. Von ihm erwartet man sich zudem einen mäßigenden Einfluß auf Clement bei Konflikten mit dem grünen Koalitionspartner. Ähnliche Hoffnungen hegen die Bündnisgrünen, deren Umweltministerin Bärbel Höhn gestern die SPD-interne Machtaufteilung als „gutes Zeichen“ für die Zukunft der Koalition wertete.

Wieviel grüne Stimmen Clement bei der für Ende Mai/Anfang Juni avisierten Wahl im Landtag bekommen wird, steht dahin. Weiten Teilen der Grünen Partei gilt der 57jährige als „Lieblingsfeind“, als koalitions- und kooperationsunfähiger Betonkopf. Zu Beginn der Koalition hatte der grüne Parteisprecher Rainer Priggen den rastlosen „Macher“ zwar noch als „Architekten“ des rot-grünen Bündnisses gelobt, doch spätestens seit dem erbitterten Streit um den Braunkohletagebau Garzweiler II herrscht zwischen Clement und den meisten führenden Grünen Eiszeit. Futter, die wechselseitige Abneigung zu pflegen, bot das rot- grüne Gewürge der vergangenen Jahre reichlich. Clement selbst klagte dabei im Hintergrundgespräch schon mal über die Grünen „als Strafe Gottes“. Doch gestern war von solchen Tönen nichts mehr zu hören: „Ich gehe davon aus, daß diese Koalition erfolgreiche Arbeit zu leisten imstande ist.“ Dem Bekenntnis zum Koalitionsvertrag folgte die Ankündigung, er wolle seine neue Aufgabe „mit hohem Tempo“ angehen und sich vor allem darum kümmern, den Arbeitsmarkt in NRW wieder ins Lot zu bringen. Damit sie selbst bei diesem Tempo nicht aus der Kurve fliegen, wollen die Grünen die angekündigten Gespräche mit Clement nutzen, um eine „neue, tragfähige Grundlage“ zu finden.