Rechts oben ein Kaffeefleck

Die Ingeborg-Bachmann-Textdetekteien fördern letzte Gedichte und unbekannte Reportagen ans Tageslicht  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Plötzlich, mitten in der Lektüre, ist sie da: die Lust, alte Bücher vorzukramen. Das Kursbuch Nr. 15 zum Beispiel, November 1968, mit Texten von Lu Hsün, Samuel Beckett, Daniil Charms, Lars Gustafsson und Mao Tse-tung (und Enzensberger natürlich, Salvatore, Cortázar e tutti quanti). Darin auf fünf Seiten, wie nebenbei dazwischen: „Vier Gedichte“ von Ingeborg Bachmann, die letzten, die sie zu ihren Lebzeiten veröffentlichte. In einer Fußnote von Hans Höllers Ausgabe der „Letzten, unveröffentlichten Gedichte“ kann man nun lesen, daß sie sich noch zwei Jahre danach darüber empörte, „wie häßlich gesetzt und unsinnig umbrochen“ diese Herzstücke in der Kultzeitschrift der linken Intelligenz erschienen waren.

Solche Funde schafft die unermüdliche Ingeborg-Bachmann- Textdetektei der österreichischen Literaturwissenschaft ans Licht. Deren wortarchäologische Rekonstruktionen ermöglichen es nun, etwa die Entstehung des Gedichts „Keine Delikatessen“ über nicht weniger als dreizehn Bearbeitungsstufen von ersten assoziativen Ekeleruptionen und Gewaltphantasien bis hin zur letzten Kunstsublimation mitzuverfolgen. Hieß es da anfangs noch in kulinarischem Graus „diesen Schädel, der nichts mehr wert ist, / ihn aufbrechen, dieses verderbliche Hirn essen / mit einem Tropfen Zitrone und brauner Butter darüber“, so lautet die Bilanz erst in der allerletzten Fassung gelassen und endgültig: „Mein Teil, es soll verloren gehen.“

Eine Sache für Philologiefanatiker also und allesfressende Anhänger der Bachmann-Sekte? Keineswegs. Selbst wer sich nichts wünscht als dabeizusein, wenn ein literarischer Text entsteht, und sich daher für alles interessiert, was zu diesem Prozeß gehört: was wann aufs Blatt kommt, und wie, wo und warum es wieder verschwindet, wie es sich umformt und plötzlich wieder da ist – auch der ist hier an der richtigen Stelle. Denn nicht nur steht da unvermutet am Fuß einer Gedichtseite: „Parto subito per Moscoa, ci telefoniamo dopo, bacio Ingeborg.“

Es finden sich auch Versuche, einzelne Verse selbst ins Englische zu bringen, denn eben ist die erste Repräsentantin deutschsprachiger Lyrik zu einer Lesung nach London eingeladen worden. Und selbst das profan Erscheinende erhält sein Recht, wenn die „Leberwurst“ hier der Kopplung einer „Auster mit einer Mettwurst“ weichen muß oder die Bachmann-Forscher zu Blatt Nr.214 streng wissenschaftlich konstatieren: „re.o. Kaffeefleck“.

Auf einer anderen Seite wieder liegen drei Korrekturstufen – Schreibmaschine, blaue und schwarze Tinte – übereinander. Kaum ist noch zu entziffern, wie denn der Text nun eigentlich heißen sollte, und nicht selten steht in nüchternem Registrierton auch einfach ein „Orig. nicht zugänglich“ da: Die Familie, wie so oft, hält das Blatt unter Verschluß, und letzte Klärungen über das Vorher und Hernach der Fassungen bleiben vorläufig ausgeschlossen.

Daß freilich der Wissenschaftler, der mit wundersamer Akribie auch Schrifttypen und Papiersorten bezeichnet, von einem ganz anderen Interesse geleitet ist als der stöbernde Normalleser, steht außer Zweifel. Jedes einzelne der hier in ihrer Verdichtung dokumentierten Gedichte wird von einem Essay begleitet, der auf dem letzten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis Verbindungslinien zwischen Bachmanns und Celans Lyrik, zwischen den Prosaprojekten und letzten Gedichten oder auch der Motiventwicklung innerhalb des lyrischen Gesamtwerks zieht.

Das aber ist beileibe kein Grund, sich abschrecken zu lassen – im Gegenteil: Auch das umherschweifende Lesen findet genug Anhaltspunkte, die weiter ins Bachmannsche Textlabyrinth hineingeleiten und immer wieder Lust machen, weitere, längst vergessene Texte aus dem Regal zu ziehen.

Doch dabei bleibt es nicht. Denn immer noch ist dieses Labyrinth kein in sich abgeschlossenes Bauwerk. Auch ein Vierteljahrhundert nach Ingeborg Bachmanns Tod können, wie sich jetzt zeigt, noch neue Trakte freigelegt werden – es muß nur einer kommen, der die Spuren verfolgt. Das hat mit seiner Wiederentdeckung der „Römischen Reportagen“ in den Archiven von Radio Bremen Jörg-Dieter Kogel getan, und was er da gefunden hat, zeigt die oft genug zur weltentrückten Dichterin Verklärte noch einmal in einem ganz anderen Licht: La Bachmann konnte, wenn es sein mußte – und in ihren Anfangsjahren als freie Autorin mußte es dringend sein –, ohne weiteres auch eine unangestrengt lockere, professionell arbeitende Journalistin sein. Ihr Handwerk hatte sie Anfang der fünfziger Jahre als Redakteurin bei einem österreichischen Sender gelernt.

Von 1954 bis 1955 dann wendete sie es in wöchentlichen Berichten aus ihrer Wahlheimat Italien für Radio Bremen und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung an.

Da wurde nichts ausgelassen: weder die hohe noch die niedere Politik, nicht der Einfluß der kommunistischen Partei oder der Gebietsstreit mit Titos Jugoslawien um die Stadt Triest, der Vatikan und die Touristen ebensowenig wie die Spaghettipreise, das neueste Fiat-Modell oder die spektakuläre Selbstinszenierung des Filmstars Gina Lollobrigida, die in einem Mailänder Hotel vier Tage lang 26 Malern Modell saß – eine „Gelegenheit“, wie die Korrespondentin mit milder Ironie resümierte, „die Beziehungen zwischen den Künstlern und der Gesellschaft auf eine etwas ungewöhnliche, aber nicht ganz und gar unmögliche Art wiederherzustellen“.

Und dann war da noch der „Fall Montesi“, eine Skandalgeschichte aus höchsten römischen Kreisen, in die auch die süditalienische Halbwelt und ein Prinz Moritz von Hessen verwickelt waren, den Außenminister zwang die Affäre zum Rücktritt. Bachmann verfolgte den Fall bis in den März 1955, als einzelne Beteiligte nun auch noch Kapital aus dem Kapitalverbrechen zu schlagen versuchten – ein Symptom der allen moralischen Maßstäben entfremdeten Nachkriegsgesellschaft und ihrer durch nichts zu begrenzenden Gier.

„Gier“ ist denn auch nicht zufällig der Titel einer Fragment gebliebenen, 1982 postum von Robert Pichl veröffentlichten Bachmann- Erzählung, in deren Zentrum „ein Typus unserer Zeit“ steht. „Seine Gier ist Gier nach Geld, nach Macht, nach dem Besitz von Frauen, nach Leben“, notierte Bachmann. „Doch diese Gier zerstört die Menschen, die in seiner Gewalt sind, und sie zerstört letztlich auch ihn“ – ein Mordfall, in seinen Hintergründen gar nicht unähnlich dem Casus Montesi. Wen würde es da wundern, wenn die Textdetektei Höller & Pichl hier wieder eine Spur aufnähme? Ein Ende der mäandernden Fäden durchs Bachmannsche Werklabyrinth jedenfalls ist bis heute nicht abzusehen. Das heißt für die einen harte philologische Arbeit. Für stöberlustige Leser aber: weiteres Leseglück in Sicht.

Ingeborg Bachmann: „Letzte, unveröffentlichte Gedichte“. Herausgegeben von Hans Höller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 180 Seiten, 56 DM

„Römische Reportagen“. Herausgegeben von Jörg-Dieter Kogel. Piper Verlag, München 1998, 120 Seiten, 29,80 DM