Der Duft von Bratwürsten

Kommt simpel von Simplicissimus? Ingo Schulzes ostdeutscher Roman  ■ Von Kerstin Hensel

Titel und Untertitel des neuen Buches von Ingo Schulze, „Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz“, geben den Eindruck einer ziemlich abgegriffenen Lustigkeitsmasche, die hier vorzuliegen scheint. Die Begriffe „simpel“ und „ostdeutsche Provinz“ spielen in allen Medienwitzen und Zeitkabaretts als zusammengehörig eine Rolle; sollte der 1962 geborene ostdeutsche Autor Schulze dem nur noch ein weiteres Stück anfügen wollen? So einfältig geht's in dem Roman dann aber doch nicht zu. Der Autor gibt höhere Ansprüche vor, indem er zunächst, in äußerlicher Anlehnung an die Romantechnik des Spätmittel- und Barockzeitalters, den Kapiteln einen „kurzen, doch ausführlichen Inhalt und Auszug der merkwürdigsten Sachen“, wie weiland Grimmelshausen es tat, voranstellt. Das Kapitel 11 zum Beispiel geht so: „Zwei Frauen, ein Kind, Terry, das Monstrum und der Elefant / Wie Edgar, Danny und Tino in eine gemeinsame Neubauwohnung mit Balkon ziehen. Der Duft von Bratwürsten. Große und kleine Katastrophen. Flecken auf Sessel und Kelim.“ Das Buch hält, was er verspricht: Es sind „simple Storys“, locker gefügt, äußerlich, inhaltlich und geistig miteinander verbunden, souverän und witzig verstrickt. Die besten unter ihnen haben simplicissianische Größe. Es sind jene, wo aus Witz Gesellschaftssatire wird, das beschriebene Kleine zu komischer Größe gerät.

Die Geschichten, von den handelnden Personen selbst erzählt, spielen in Sachsen. Alles, was mit Sachsen zu tun hat, wirkt von Natur aus albern, vor allem, wenn es um den Dialekt geht. In der Art, wie Grimmelshausen seinen „Simplicissimus“ mit pfälzisch-hessischer Mundart durchwebte, versucht Schulze es mit einem Anklang von Sächsisch. Schade nur, daß es beim Anklang bleibt, und schade, daß Schulze nicht dem scharfen Blick des Kollegen aus dem Dreißigjährigen Krieg konsequent gefolgt ist und dadurch unser gegenwärtiges Zeitalter letztendlich nur schwach beleuchtet. Die Leute, die Schulze ihre Lebensstorys erzählen läßt, heißen Renate, Ernst, Hanni oder Detlef. Nomen est omen: Es sind Leute wie du und ich; Kellnerinnen, Museumspräparatoren, Psychiaterinnen, vor allem aber Autofahrer. Diese Leute haben mit der „Wende“ zu tun, rappeln sich auf oder bleiben in ihrer Muffigkeit sitzen; benutzen in ihrem neuen Alltag Meister Proper und Glitzi-Schwämmchen, gucken Pro7 und sagen gern und oft okay. Sie hocken in Beziehungskisten, haben Sehnsucht nach dem Wessi-Unternehmer und nach Italien, gehen im Möbelparadies einkaufen, würgen den Motor vom neuen BMW ab, überfahren Dachse und verlieren ihre Anstellungen. Die ganze Palette Wirklichkeit wird in den Storys aufgetan.

Das liest sich sehr leicht und vergnüglich, weil es gekonnt geschrieben ist. Ingo Schulze ist ein genauer Beobachter. Er kennt sich unter den Leuten aus, hat, wie man so sagt, den Blick fürs Detail. Manchmal schreibt er allerdings zu nahe an der Oberfläche (Konsumgüternamen und alltagspolitische Anspielungen zum Beispiel sind literarisch sehr flüchtig), so daß man das Wesentliche nicht mehr sieht. Zum großen gesellschaftskritischen Roman fehlt dem Autor der große Zugriff, aber es ist ein sehr lesenswerter Zeitroman. Immer wieder ist mir beim Lesen die Idee gekommen, man könnte daraus eine Fernsehserie machen. Fürs Fernsehen wäre das ein Gewinn.

Ingo Schulze: „Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz“. Berlin Verlag, Berlin 1998, 302 Seiten, 38 DM