Platitüden statt ideologischen Ballasts

■ Indiens neue Regierung unter Führung der Hindupartei BJP vereidigt, doch das Gefeilsche um die Ressorts ist noch nicht beendet

Delhi (taz) —Es sollte ein historischer Augenblick sein, doch am Ende erfüllte nur die festliche Kulisse die Erwartungen der Parteikader. Fast 50 Jahre hatte die nationalistische Hindupartei BJP auf den Augenblick der Machtübernahme warten müssen, wenn man von den 13 Tagen von 1996 absieht, als sie an der Vertrauensfrage gescheitert war. Ihr Ziel hat die Partei im Jubiläumsjahr der indischen Republik zwar erreicht, aber ihren Traum eines „Ram Rajya“ — einer hinduistischen Gesellschaftsordnung — mußte sie vor den Toren des Präsidentenpalastes zurücklassen. Im Vorhof dieses Symbols britischer Kolonialmacht wurde gestern der neue Regierungschef und sein Kabinett vereidigt. Das neue Team von Premierminister Atal Behari Vajpayee glich aber weniger einem Trupp strammer Ideologen als einer sorgfältig ausbalancierten Vertretung von 13 Allianzparteien und unabhängigen Partnern, von Regionen, Kasten, Geschlechtern und Religionsgruppen.

Wer gehofft hatte, daß mit der Vereidigung die lange versprochene Stabilität eintreten würde, sah sich getäuscht. Zwar wurden neben Vajpayee 42 Minister vereidigt, doch die Zuteilung der Ressorts war damit noch nicht entschieden. Statt wie üblich nach der Vereidigung auch die Portefeuilles bekanntzugeben, setzten die Koalitionspartner gestern ihr Feilschen um Ministerposten fort.

„Swadeshi“ ist das neue Mantra der Koalitionsregierung. Es steht für „nationale Selbständigkeit“, aber seit der Unabhängigeitsbewegung besitzt es eine deutlich ausländerfeindliche, antimodernistische und wirtschaftliche Färbung. Die BJP versteht darunter die Betonung der nationalen Wirtschaft zuungunsten multinationaler Konzerne, während andere China als Beispiel nehmen und mit „Swadeshi“ eine starke Nation wollen — auch wenn dies mit ausländischem Kapital erreicht wird. Das vorgestern verkündete Regierungsprogramm blieb eine eindeutige Antwort in dieser Frage schuldig. Es sprach von einer Fortsetzung der Reformen „mit einer starken Swadeshi-Stoßrichtung“. Ausländische Investitionen sollen bei Infrastrukturvorhaben angelockt, in nicht prioritären Sektoren dagegen „entmutigt“ werden.

Von der Wahl der Person des Finanzministers erhoffte sich die Wirtschaft Aufklärung über die genaue Bedeutung der vagen Formulierungen des Regierungsprogramms. Als die Ernennung auf sich warten ließ, gingen die Kurssteigerungen vom Morgen gegen Börsenschluß wieder zurück. Es war auch ein Zeichen, daß die Wirtschaft der neuen Regierung zwar nicht negativ, aber doch illusionslos entgegensieht. Auch die Zeitungen gingen in ihren Kommentaren mit dem Regierungsprogramm recht unwirsch um und bemängelten die wohlmeinenden Sprüche, die ohne konkrete Zeit- und Ausführungsvorgaben nicht mehr als „Platitüden“ seien.

Zudem will die neue Regierung, wie es sich für eine nationalistische Partei gehört, die Verteidigungsausgaben aufstocken. Allerdings sind sich die Kommentare einig, daß eine nukleare Aufrüstung nicht dazu gehört. Die Agenda spricht zwar davon, „die nukleare Option einzulösen“. Vajpayee sprach aber lediglich davon, diese Option „offenzuhalten“, was auf eine Bestätigung der bisherigen Politik hinausläuft. Das Dokument vermeidet jede feindliche Äußerung gegenüber Pakistan, spricht vielmehr von einer Förderung der friedlichen Beziehungen mit den Nachbarn. Dasselbe gilt für die Lieblingsthemen der bisherigen BJP-Propaganda — das Erbauen eines Ram-Tempels über der Ruine der Ayodhya-Moschee, ein Verbot der Kuhschlachtung, eine Änderung im Status von Kaschmir. Keines dieser Themen wurde auch nur mit einem Wort erwähnt. Sie gehören zum ideologischen Gepäck, das die BJP zurücklassen mußte, um gestern im Präsidentenpalast ihren historischen Sieg feiern zu können. Bernard Imhasly