Draufhauen! Nachsetzen!

■ Die Bremer Straßenbahnunruhen vom Januar 1968. Auszüge eines radiophonen Protokolls von Detlef Michelers

1968 verbindet sich in Bremen mit dem Begriff „Straßenbahnunruhen“. Im Januar jenes Jahres blockierten SchülerInnen über Tage Schienen in der Innenstadt, um die Bremer Straßenbahn AG zur Rücknahme einer Fahrpreiserhöhung zu zwingen. Die Blockade mündete schließlich in einer wüsten Polizeiprügelaktion – und der Rücknahme der Erhöhung durch den damaligen Regierungschef Hans Koschnick (SPD). Der Autor Detlef Michelers hat 30 Jahre nach diesen Ereignissen ProtagonistInnen der Unruhen – SchülerInnen, PolitikerInnen, Polizisten – interviewt und aus deren Erinnerungen für Radio Bremen ein einstündiges Radiofeature montiert. Wir dokumentieren eine stark gekürzte Fassung des Features. Eine stark erweitere Fassung wird im Herbst als Buch erscheinen.

Rolf Gerken (Schüler): Den Unabhängigen Schüler Bund (USB) haben wir in Bremen im November '67, am 13. oder 17. in der ,Marktschänke' in der Violenstraße gegründet.

Karlheinz Paskuda (Schüler): Man war irgendwie Mitglied beim USB, ich weiß nicht, ob ich irgendwann mal 'ne Beitrittserklärung unterschreiben mußte. Man fühlte sich als Mitglied und sagte das dann auch. Aber ich habe bestimmt keinen Beitrag bezahlt oder so.

Gerken: Unsere erste große Aktion war am Heiligen Abend unsere Vietnamdemonstration vor fast allen Bremer Kirchen. Die nächste Wahnsinnsaktion war dann die Straßenbahndemonstration.

5. Januar 1968. Der USB droht mit Protesten, falls die geplanten Fahrpreiserhöhungen von zehn Pfennig bei der Straßenbahn nicht zurückgenommen werden.

Gert W. Settje (Jungsozialist): Zehn Leute vom USB kamen eines Abends und sagten, die Straßenbahnpreise sollen erhöht werden. Und da meinte ich, man sollte mit 'ner Gruppe in der Innenstadt einen Gleiskörper belegen.

Montag 15. Januar 1968.

Christoph Köhler (Schüler): Ich glaube, wir haben uns zu zehnt vorher in der Eule getroffen und gezittert vor Angst und sind dann dahin, 'ne.

Rolf Gerken (Schüler): Das war nicht geplant, daß wir da 'ne Straßenbahn anhalten, muß ich ganz klar sagen: Wer das behauptet, lügt! Die dann tatsächlich was gemacht haben, waren vielleicht vier, fünf. Die anderen verteilten 'n paar Zettel vor der Post. Dann kam so ein offener Waggon auf den Domshof gefahren. Und wir standen dann auf den Gleisen, und der mußte bremsen.

Köhler: Dann haben wir uns bescheiden da hingesetzt und hatten ja ziemlich große Angst, ob wir von den Leuten verprügelt werden, die schnell nach Hause wollen. Auch vor der Polizei, was die mit uns macht. Es war ja auch die erste Aktion dieses Typs.

Joachim Barloschky (Schüler): Und es dauerte auch nicht lange, dann waren wir runter von den Schienen getragen. Und dann auf der anderen Seite wieder vor die nächste davor gesetzt und nach fünf Minuten wieder weggetragen von Polizisten.

Dieter Klink (Politiker): Ich hab mir dann aber mal den Kreis angesehen, der da demonstrierte. Das waren ja meistens Schüler. Von Walle und Gröpelingen war keiner da. Jan Arbeitsmann war da nicht zu sehen.

Annemarie Mevissen (Politikerin): Der Senat und die bremische Bürgerschaft haben das an sich nicht ernst genommen. Es war ein sehr kalter Januar, und als sich die Schüler auf die Schienen setzten, haben die Senatoren gesagt, die werden schnell wieder da verschwinden.

Dienstag 16. Januar

Paskuda: Ich kann mich erinnern, daß es vorzüglich geklappt hat: Wenn es an der Domsheide zu heiß wurde, dann ist man zum Bahnhof gelaufen. Wie Hase und Igel, immer hintereinander hergelaufen. Aber wir waren der Polizei immer voraus.

Archiv: Mittwoch 17. Januar: „Herr von Bock und Polach, Sie hatten die Leitung der Aktion. Für 21.30 Uhr haben Sie die Presse eingeladen. Wann war Ruhe und Ordnung in Bremen wiederhergestellt?“– „Genau um 21.20 Uhr.“

Jan Lahusen (Schüler): Ich hatte das große Vergnügen, in den stadteigenen Wasserwerfer hineinzukommen. Der war aufgrund seiner langen beschäftigungslosen Zeit nicht mehr intakt, und auch das in der Mitte stehende Schwungrad konnte von den Polizisten nicht mehr so bedient werden, daß eine genaue Zielrichtung erkennbar war. Im Grunde rotierte das Ding immer. Die Heizung im Fahrzeug ließ sich nicht ausstellen, woraufhin man die Scheiben aufgemacht hatte. Es saßen nun die dicken, rotgesichtigen Polizisten da drin, und dann flog, von irgendeinem Ferkel geworfen, noch eine Milchtüte gegen das Gitter, platzte und ergoß sich innendrin. Erst ein Prusten, dann aber auch ein prustendes Gelächter aller Polizisten, weil das eine chaotische Schweinerei war.

Wolfgang Müller (Polizist): Der Mittwoch war der erste Tag, wo wir gezielt auf dem Kasernenhof eine Ausbildung gemacht haben für Demonstrationen. Man hat uns „Keile“beigebracht. Um sie in diese Demonstrationslinie reinzutreiben.

Settje: Typisch, daß die Macht nicht einschätzen konnte, was weiter passieren kann. Sie war rabiat von Anfang an. Das war natürlich auch eine Sache des Polizeipräsidenten von Bock und Polach, der ja noch als Kommißkopf im Zweiten Weltkrieg andere Vorstellungen hatte von Ruhe und Ordnung.

Waldemar Klischies (Politiker): Es ist zu hysterischen Szenen gekommen. Plötzlich kursierten Meldungen, die Demonstranten versuchen, die Straßen-bahnlei-tungen abzureißen. Später stellte sich heraus, alles dummes Zeug.

Enno Koch (Polizist): Da kamen also die Schüler mit flüssigem Beton und haben die Weichen dicht gegossen und dann eben solange dort demonstriert, bis dieser Beton hart war.

Klischies: Dummes Zeug. Eine hysterische Meldung, die dazu diente, uns verrückt zu machen.

Jörg Streese (Schüler): Und es kam die Aufforderung, alles zu räumen. Das ging gar nicht, weil hinter einem noch genügend andere standen.

Paskuda: Es gab auch 'n paar Leute, die haben es 'n bißchen aktiver betrieben. Aus'm Omnibus mal die Luft rauslassen oder 'ne Straßenbahn abgekoppeln.

Gerken: Während der Straßenbahndemonstrationen war ich am Mittwoch mit Gert Settje auf dem Bahnhofsplatz. Da waren wir kurz davor, Anhänger abzukuppeln. Wir haben uns nicht getraut.

Klischies: Ich erinnere mich an diese furchtbare Auseinandersetzung, die es am Domshof gegeben hat, wie ich gesehen habe, wie ein Polizeibeamter die Pistole zog. Er hat nicht geschossen, aber man mußte zittern.

Lahusen: Die Polizei wußte nicht mehr, ob sie auf Demonstranten oder eigene Leute einschlug.

Köhler: Wir wurden dann angesprochen auch in der Schule, ob wir nicht mäßigend einwirken können und ich jedenfalls war der Meinung, ja, man muß nicht unbedingt die Straßenbahn kaputt machen.

Klaus Busch (Lehrling): Es wurde krampfhaft versucht, da so Organisationskerne zu finden. Es gab dann plötzlich Gespräche mit dem Kurt Hübner vom Theater. Es gab dann ein Gespräch bei Abramczik, dem Domprediger, bei ihm oben in der Wohnung. Der hatte sich eingeschaltet und wollte uns dazu kriegen, daß wir das aussetzen oder die Gewalt runterdrücken. Hätten gar nicht gewußt, wie wir das tun sollten.

Streese: Ich weiß noch, da waren bestimmt 40 Leute und haben mit Klischies diskutiert. Und er griff immer wieder zum Telefon, um das, was er zusagen konnte, noch mal rückzukoppeln. Und wir haben ganz klar gesagt – ein bißchen omnipotenthaft – „Wenn keine Polizei da ist, garantieren wir für eine absolut vernünftig diskutierende Versammlung auf dem Marktplatz.“

Klischies: Während dieser Veranstaltung fanden heftige Auseinandersetzungen statt, mit dem unerfreulichen Höhepunkt und dieser bekannten Äußerung des Polizeipräsidenten von Bock und Polach ,Draufhauen, nachsetzen!'

Lahusen: Abramczik und ich haben am Fenster der Glocke gestanden und die Aktion beobachtet. Es war zum Heulen. Richtig elend. Man konnte von oben sehen, wie entsetzlich die Menschen zusammengeschlagen wurden.

Hans Koschnick (Politiker): Von Bock und Polach war außer sich, daß die Polizei sich nicht durchsetzen konnte. Er kann ausgerastet sein. Und das ,Nachsetzen, draufhauen' ist nicht die allerklügste Bezeichnung. Ich hatte das Gefühl, da ist der junge preußische Polizeileutnant von Altona wieder wach geworden. (lacht)

Hans Biermann (Journalist): Und dann kam Bereitschaftspolizei. Unerfahrene Beamte mit Helm und Knüppel. Und die kriegten den Befehl „Knüppel frei“und los.

Freitag, 19. Januar. Am Vorabend wurden 126 Personen festgenommen. Sechs blieben in Untersuchungshaft und stehen im Laufe des Tages vor Schnellgerichten.

Koschnick: In fröhlichem Mut habe ich aus meiner Sicht gesagt: Was heißt hier einsperren? Ist alles Quatsch, setzt die im Blockland aus, wenn kein Bus mehr fährt, dann können sie laufen. Das haben die natürlich erfahren und gesagt: Koschnick dieser Lump (lacht).

Mevissen: Donnerstag abend rief Koschnick mich an und sagte: „Die Jugendgruppe bittet mich an Montag zum Gespräch. Und jetzt haben sie plötzlich erklärt, daß der Termin nicht eingehalten werden kann, daß sie bereits am Freitag kommen wollen. Und ich bin auswärts. Ich kann das nicht wahrnehmen. Du mußt es übernehmen.“

Gerken: Annemarie Mevissen, das war die einzige, die ihren Mann gestanden hat (lacht). Die hat dann eingeladen am Freitag morgen ins Rathaus. Hermann und ich sind rein. Hermann studierte in Hamburg schon, war aber unser Rädelsführer (lacht) weil der, der konnte so herrlich sabbeln. Der hatte sich so 'n bißchen den Slang von Rudi Dutschke angeeignet.

Mevissen: Nach vier Stunden Diskussion mit ihnen hatte ich das Gefühl, daß sie selbst vor der Ausweitung des Konflikts mit der Polizei und mit den auch heranreisenden jungen Leuten, die auf Krawall gebürstet waren, Angst hatten. Und für mich völlig überraschend kam dann die Bitte, ich möchte versuchen die Polizei im Hintergrund zu lassen und selber auf dem Domshof zu sprechen. Ich hatte Angst, das muß ich ehrlich gestehen. Koschnick hatte am Abend dann noch angerufen und erklärt, er würde am Montag auf dem Domshof öffentlich mit den Jugendlichen sprechen.

Robert Bücking (Schüler): Für uns war das alles nur Wetterleuchten. Wir wußten nicht, warum wir stark waren und warum wir auf einmal so viele waren. Wir wußten nicht, warum sich jemand für uns interessierte und warum uns jemand den Daumen drückt und warum uns jemand zur Hölle wünscht.

Montag 22. Januar. Die Bürgerschaft beauftragt den Senator für Verkehr, die Tarifgestaltung der Straßenbahn AG zu überprüfen, um eine Fahrpreisermäßigung zu erreichen. Am Abend versammeln sich Tausende auf dem Domshof.

Gerken: Hermann griff sich auf dem Domshof das Mikrofon: Ich frage Sie, Herr Bürgermeister, nehmen sie die Preiserhöhung zurück? Fing Koschnick wieder an zu labern und Hermann hat sich wieder das Ding gegriffen. Da möchte ich nicht in Koschnicks Anzug gesteckt haben wollen.

Klink: Rademann glaubte, irgendwie ein kleiner Lenin zu sein.

Gerken: Der polterte dazwischen und das war ganz toll. Der krönende Abschluß war, als Koschnick erpreßbar wurde durch die Masse. Das war wahnsinnig.

Dienstag 23. Januar 1968.

Klischies: Meiner Erinnerung nach war es der Betriebsrat von Klöckner, Benno Schütter hieß er, der da seine Solidarität zum Ausdruck brachte, und da wurde man allmählich sehr nachdenklich, als solche Stimmen kamen. Verdammt noch mal, jetzt haben wir die Schüler auf der Straße, und wenn dann noch die Arbeiter kommen, dann sieht es aber schlimm aus.

Mittwoch 24. Januar 1968. Koschnick auf dem Domshof: „Erstens: Die Einkommensgrenze für den Bezug von Stammkarten wird von 160 auf 200 Mark erhöht.“(Klatschen) „Zweitens: Sammelkarten für Schüler, Studenten und Lehrlinge berechtigen bei einem Preis von DM vier für elf statt wie bisher für zehn Fahrten.“(Klatschen, Bravo!)

Köhler: Das war zwar die Zusage, wir haben es geschafft. Aber alles was da am Mittwoch noch hätte stattfinden sollen an Agitation, Aufklärung über das System und politische Radikalisierung, das ging nicht mehr, das hatte dann die SPD voll im Griff.