Kakerlaken & Sterne

■ Virtuella verwandelte das Alabama per Mausklick in das „Kino der Zukunft“

Ton, Farbe, Cinemascope, 3D, THX, Imex – betrachtet man den Gang der Kinogeschichte, scheint man es mit einer immer reibungsloser laufenden Überwältigungsmaschinerie zu tun zu haben. Daß die Kinoleinwand auch den Rahmen für eine Kunst ganz anderer Art abgeben kann, führte Virtuella am Freitag unter dem Titel 2017: Odyssee im Cyberspace im Alabama vor. Angekündigt war eine experimentelle „Multimedia-Lesung in Fortsetzungen“, eine Science-Fiction-Geschichte, die sich zum Teil im Internet abspielt, und so waren die Besucher wohl auf manchen Datenstau vorbereitet.

Daß es dann doch erstaunlich glatt lief, lag daran, daß Virtuella die meisten Bilder, Filme und Musikstücke schon in abgespeicherter Form vorliegen hatte, sei es als Video, CD oder Computerdatei. Die wenigen Online-Ausflüge waren denn auch prompt die einzigen „Pannen“der Lesung, weshalb das Publikum auf den Hendrix-Song „Little Wing“und einen Abstecher in ein New Yorker Cybercafé verzichten mußte. Was bei jedem Spielfilm als Skandal empfunden wird – Störung, Tonausfall, Filmriß – entwickelte hier jedoch eine Spannung ganz eigener Art. Denn der Held des Abends war weniger Spezialagent Hendrix, der im Netz einer Verschwörung auf der Spur ist, sondern vielmehr das blinkende Symbol der Maus, das in vielerlei Verkleidungen (Hand, Zeiger, Uhr) über die Leinwand raste und in gewagten Metamorphosen Kakerlaken und explodierende Sterne miteinander in Beziehung setzte.

Die Leinwand war hier kein Ort der totalen Illusionierung, sondern Projektionsfläche oftmals disparater Materialien. Narrative Elemente traten zurück und machten Raum für poetische und verwirrende Collagen. So wurden die Grundrißpläne des Harrisburg-Reaktors mit Rammsteins Gesängen über Inzucht und Sodomie unterlegt. Das war wenig identifikationsstiftend, schärfte aber den Blick für die Möglichkeiten von Multimedia als Sample-Maschine unterschiedlichster Materialien. Bleibt zu hoffen, daß Virtuella sich von der geringen Zuschauerzahl nicht abschrecken läßt – auch wenn ihr Experiment keine Fortsetzung finden sollte, eine Zukunft hat es allemal.

Volker Hummel