Mietshaus, Märchen und Misere

■ Dabeisein ist alles: Simone Schneiders „Malaria“ am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt

Irgend etwas stimmt an der Perspektive nicht. Wir blicken von oben in die Grube und sitzen mitten drin. „Dies Land ist unser Land“, verrät eine ferne Simme zu entspannter Clubmusik aus dem Lautsprecher, „hier wollen wir leben.“ Das Leben aber ist eine Baustelle, und so muß diese Grube die Aushebung für ein gigantomanisches Hochhaus sein. Es schwindelt niemand, wenn er hinabsieht. „Toll, nachts auf einer Baustelle zu sitzen“, erklärt Isa gleich beim ersten Auftritt: „Man hat das Gefühl dabeizusein.“

Dabeisein wollen alle, aber die meisten stecken tief drin. Im Schlamassel, im Sumpf der umgegrabenen Großstadt, tief in der Scheiße. „Malaria“, abgeleitet vom italienischen „mala aria“, schlechte Luft, heißt Simone Schneiders jüngstes Drama, das von krankmachenden Bedingungen und zerstörerischen, auch erlösenden Fieberträumen erzählt. Berlin ist Ort der Handlung und Zwangsjacke aller Handelnden selbst. Wer wie Michel weg will, kommt gerade mal bis Oldenburg und ist am nächsten Morgen ebenso reumütig wie großmaulig zurück. Wer wie Mania das Wort „Zukunft“ denkt, kriegt eins in die Fresse. Von den sieben Figuren des Stücks bilden sechs Ost- West-Pärchen, deren Beziehungen allesamt zum Scheitern verurteilt sind. „Ein Paradies. Realistisch gesehen ein Alptraum“, heißt es über die Hauptstadt, in der offensichtlich nicht zusammenwächst, was zusammengehört, sondern Utopie seit acht Jahren mit Scheitern buchstabiert wird.

Schneiders realistischer Alptraum ist vor allem ein Paradies für Schwarzweißmaler. Und irgend etwas stimmt an der Perspektive nicht. Nach „Die Nationalgaleristen“, dem Debüt der Dramatikerin, das 1994 an den Münchner Kammerspielen einen Haufen Seelenloser im Textmeer schwimmen ließ, und nach „Orwell. Ein Stück“, einem Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim, das 1996 Kunstfiguren durch postmoderne Kühle wehen ließ, wollte die 36jährige in „Malaria“ erklärtermaßen „die Dinge einfacher sagen“ und „mehr Wirklichkeit einfangen“. Diese Wirklichkeit ist aber ein wenig zu einfach geraten: ein binäres System von Misere oder Märchen.

Die reiche Westlerin Isa (Caroline Ebner) verliebt sich beim nächtlichen Sturz in die Baugrube in den armen Ostler Dionysos (Oliver Masucci). Er lebt in einem verkommenen Mietshaus in Berlin-Mitte, das Isas Vater, Porschefahrer, kauft und luxussaniert. Hart trifft das den Einzelgänger im Ziegenfell und die wenigen verbliebenen Mieter: die Ostlerin Mania, seit der Wende arbeitslos und schlafsüchtig, sowie ihren Westler- Freund Michel, ein bankrotter Ex- Philosophiestudent. Es mangelt weder an platten Strickmustern noch an plakativen Inkarnationen des Bösen: Kapital, Kreditkarte, Klimakatastrophe, wahlweise auch Inzest, Spielsucht und Auftragskiller.

Anselm Webers recht konventionelle Regie im naturalistischen Abbruchhausambiente von Barbara Ehnes legte bei der Uraufführung im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses nahe, das Drama um die böse Welt und hysterischen Beziehungsstreß auf Tournee in Jugendhäuser zu schicken. Dann aber stimmt auch diese Perspektive nicht, denn die in Düsseldorf geborene, seit 1989 in Berlin lebende Autorin läßt es immer dicker kommen, bis die Geschichte nur noch als Farce zu lesen ist: Isa und Dionysos entpuppen sich als Halbgeschwister, die Weber als verlorene Königskinder ganz in Weiß inszeniert. Haus und Leben werden renoviert, alles blitzt und glitzert, selbst ein Wunschkind wird im Bauch der Eben-noch- Jungfrau installiert.

Die Welt ist schlecht, die Herzen gut, aber um das richtige Leben im falschen kann es nicht mehr gehen. In den Neunzigern, weiß Michel, hat man sich mit dem falschen Sein im richtigen abzufinden. So macht er Sinn, der hübsche Schlußsatz, mit dem sich das junge Paar in den Sonnenuntergang verabschiedet: „Umbringen können wir's ja immer noch.“ Christiane Kühl

Nächste Termine: 23., 24. und 30.3.