piwik no script img

Völker sind wie wilde Tiere

Helden im Systemvergleich: Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin widmet sich den nationalen Bild-Mythen des 19. Jahrhunderts  ■ Von Kathrin Bettina Müller

Niemand zweifelt an der Grausamkeit und Verwilderung durch den Krieg, wie ihn Francisco de Goya in seinen „Desastres de la Guerra“ schildert. Er verherrlicht den Widerstand nicht, den die Bevölkerung Madrids den französischen Eroberern 1808 entgegensetzte. „Und sie werden zu wilden Tieren“ heißt eine Radierung, deren Titel sich gleichermaßen auf die Frauen, die sich mit Speeren, Messern und Steinen wehren, oder auf die mit Musketen angreifenden Soldaten beziehen kann. So sahen keine Bilder aus, die das nationale Opfer verklären wollten.

Solche bis heute packenden Szenen sind rar in der Ausstellung „Mythen der Nationen“, die sich mit der Konstruktion des Nationalgedankens im 19. Jahrhundert beschäftigt. Neben Goyas Radierungen gehört eine kleine Straßenschlacht von Constantin Meunier zu den wenigen anrührenden Werken. Die große Spannung, mit der die Belgier 1830 in Brüssel gegen die niederländische Regierung kämpften, hat sich in den breiten, fast expressiven Strichen Meuniers niedergeschlagen. Der Maler hebt keine einzelnen aus den Gruppen Verwunderter und Helfender heraus. Wie glatt, konventionell und gestellt nimmt sich daneben Charles Soubres „Abmarsch der Freiwilligen“ aus, das sich mit patriotischem Hüteschwenken, Trommeln und Säbelrasseln auf das gleiche Ereignis bezieht.

Eine solch ermüdende Bildrhetorik zeichnet die Masse der 300 Exponate und 600 Abbildungen im Katalog zur Berliner Ausstellung aus. Die Historienmaler verzichteten auf jede Reflexion ihrer Mittel, um mit dem Detailrealismus eines Augenzeugen über die Fiktivität der theatralisch zugespitzten Situationen hinwegzutäuschen. Anleihen bei der christlichen und antiken Ikonographie helfen, Helden zu machen. Die Bilder sind ein längst verbrauchtes Vehikel der Mythen zur Beschwörung nationaler Einheit, deren diskursiver Macht, die bis heute die Wahrnehmung prägt, man so nicht habhaft werden kann.

Das Bedürfnis der jungen Nationalstaaten, sich über die Vergangenheit zu legitimieren, ist der Motor ihrer Verbreitung. Im Pathos der Bilder wird vor allem sichtbar, wieviel Mühe an die Fiktion des Dargestellten verwandt wurde und wie sehr diese Arbeit der Emotionalisierung dienen sollte. „Die Kultivierung der Vergangenheit ist eine Erscheinung der Moderne“, beginnt Georg Kreis seinen Text über die Schweiz, und diese Erkenntnis wiederholt sich in jedem der nach Nationen gegliederten Kapitel. Fast keiner der Autoren versäumt, die Vereinfachung der Geschichte in den nationalen Ursprungslegenden zu kritisieren, mit denen Konflikte überspielt und Unsicherheiten der neuen Einheit „Volk“ bewältigt wurden.

Im Mythos wird Geschichte zum „Einmann-“, seltener noch zum „Einfrau-Betrieb“, schreibt Stefan Germer. Die österreichische Kaiserin Maria-Theresia, die als mildtätige Mutter der Nation das Kind einer Bettlerin an ihrem zarten Busen säugt, gehört zu den merkwürdigsten Beispielen. Vor ein großes Problem aber stellten die Maler die Anfänge der Demokratie. Wie malt man mit Schmackes eine Verfassunggebende Versammlung? Die Menschenpyramide aus Opfern unten und Fahnenschwenker oben griff da nicht mehr. So arbeiteten sich die Maler vom Ballhausschwur in Paris oder einer Reichsversammlung in Norwegen an Architektur und Massenporträts ab, ohne zu einer befriedigenden Dramaturgie finden zu können.

Die Ausstellung gliedert sich in drei Abschnitte, die sich in den Bildmitteln allerdings kaum unterscheiden. Unter dem Stichwort „Freiheit“ geht es in der Hauptsache um die Befreiung von französischer Besatzung in Deutschland, Spanien und Italien; die Kämpfe gegen Napoleon wurden zum Katalysator des Nationalgedankens. Im Kapitel „Glaube und Krieg“ sorgen die Türken vor Wien für Dramatik. Mit der Berufung auf das Christentum wurden territoriale Ansprüche und Abgrenzungen legitimiert. „Woher wir kommen...“ listet die aus dem Dunkel der Geschichte geschürften Helden auf, wie Vercingetorix und Hermann, den Cherusker. Jeder Nation werden fünf Mythen zugeordnet, ausgewählt nach ihrer Rezeptionshäufigkeit in den Schulbüchern des 19. Jahrhunderts.

Zwar entdeckt man dabei interessante Geschichten: wie der Dichter Dante als Garant der Einheit Italiens inszeniert wurde, die Belgier den Maler Rubens für sich beanspruchten, die Niederländer mit Rembrandt-Feiern konterten und die Schweiz für ihre Tugenden den Pädagogen Pestalozzi ins Rennen schickte. Dennoch wirkt das schematische Verfahren der Vergleiche naiv, unterschlägt es doch die unterschiedliche Macht und Interessen der damit operierenden Nationen.

So liefert die Mythenforschung des Deutschen Historischen Museums (DHM) trotz Materialfülle ein reduziertes Bild. Denn obwohl die Autoren nicht die Leichen im Keller verschweigen, die mit dem Hissen der nationalen Flagge vergessen werden sollten, behandeln sie dies als ein Problem der Vergangenheit. Aber im 20. Jahrhundert haben die nationalen Legenden eine finstere Fortsetzung erlebt und erleben sie noch, vor der das DHM durch die Beschränkung auf die Vergangenheit kneift. Mit der Betonung der ähnlichen Strukturen aller Mythen im europäischen Panorama drückt sich das Museum auch um die Frage ihrer unterschiedlichen Rezeption im 20. Jahrhundert herum. Wer erwartet, etwas über Nibelungentreue und Stalingrad, Heldenverehrung und Faschismus zu erfahren: Fehlanzeige. Auch die Reinstitutionalisierung nationaler Mythen in der Gegenwart, die wieder zur aggressiven Legitimierung ausgegraben werden, hätte einen anderen Umgang mit dem Thema erwarten lassen.

Freuen über diese Zurückhaltung gegenüber einem kritischen Blick auf den Nationalgedanken in der Gegenwart kann sich der Schirmherr der Ausstellung, Helmut Kohl. Denn dessen Position gründet auf der Rhetorik von der nationalen Einheit, die aller kritischen Dekonstrukion ihrer Mythen zum Trotz noch immer funktioniert.

Mythen der Nationen, bis 9. Juni, Deutsches Historisches Museum, Berlin. Unter den Linden 2. Katalog: 48 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen