Traumbild als geharnischtes Kind

Die Sammlung von Heiner Müllers Gedichten aus sechsundvierzig Jahren zeigt, wie sich der Dichter in allen ihm erreichbaren Tonarten für den ganz großen Auftritt einsang. Zu diesem Zweck nahm er Haltungen ein, und tatsächlich führte er das Werk zum Sieg  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Den Anfang kann man sich so vorstellen: Zu Beginn der fünfziger Jahre zieht der junge Mann in die halbierte Hauptstadt der gerade gegründeten DDR. Ein bißchen Geld verdient er sich als Journalist, Sparte Kultur, aber was er eigentlich schreibt und schreiben will, ist: Literatur, und zwar große. Mit Gedichten fängt er an. Da trifft es sich gut, daß der sogenannte Arbeiterdichter „Kuba“ in Berlin einen Autorenkreis mit sehr gemischter Besetzung leitet. Auch der junge Müller geht dorthin. Und setzt sich zu Hause an den Schreibtisch, um ein perfektes Gedicht über Horaz zu schreiben, einen Mann wechselnder Karrieren und ebensolcher politischer Standpunkte, später, unvermeidlich, auch „Liebling der Philologen“.

„Tod dem Tyrannen und mir auch ein Landgut“ – „Acht Spiegel im Schlafzimmer und kein Wort mehr von Brutus“ – „Satt singt Horaz“: Müller zeigt den Klassiker, ohne ihn vorzuführen, knapp, meisterlich. Und ganz in die Horaz- Richtung soll es auch für ihn selber gehen – gerade hat er Christa Wolf geflüstert, einmal werde er „der größte Dramatiker Deutschlands sein“. Warum sich falsch bescheiden? Auf jeden Fall allerdings muß gesichert sein, daß der „Furz des Priap in der achten Satire“ auch noch den Tod seines Autors überdauern wird.

Wie sehr Heiner Müller von Anfang an zu dieser Sicherung entschlossen ist, wie er zielbewußt die Arbeit nicht an irgendwelchen Kleinteilen, sondern an einem Werk betreibt und dafür alles nutzt, alles ausprobiert und nichts ausläßt, das kann man jetzt im Band „Heiner Müller: Gedichte“ verfolgen. Er enthält, wie der Verlag stolz vermerkt, „neben allen Gedichten, die der Autor zu Lebzeiten in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und an entlegenen Orten veröffentlichte, auch sämtliche im persönlichen Archiv Heiner Müllers hinterlegten unveröffentlichten Gedichte“. Das „gesamte lyrische Schaffen des Autors“ ist damit „im Zusammenhang“ zugänglich.

Ob es nun tatsächlich das „gesamte“ ist oder ob hier und da nicht doch noch dies und das, aus welchen Gründen auch immer, wieder in die Schublade zurückbefördert wurde – der Herausgeber Frank Hörnigk drückt sich da in seinem Nachwort etwas umschweifig aus –, wird sich erst in einer historisch- kritischen Ausgabe herausstellen. Einstweilen und für Nicht-Müllerologen aber ist dieser Band, trotz weitgehend fehlender Datierung der Texte und häufig vermißter Erläuterung von Namen und Ereignissen, vor allem doch ein Glück.

Denn wer des bilder- und geschichtsschweren BLUTKOTSPERMASCHREIS der Müller- Stücke womöglich zuletzt ein wenig überdrüssig war – hier kann er noch einmal einen anderen Weg in das Lebens-Text-Werk hinein nehmen und den Schreiber bei seinen „SCHLACHTEN GEGEN MICH/ die meine Arbeiten sind“ beobachten: „(Waffengattung und Kampfweise wechseln / Einer von uns gewinnt immer, meistens / Ist es der andere)“.

Wohl wahr, das Werk siegt. Und die fliegenden Wechsel der Sprach-Kostüme und anhängigen Schreib-Objekte – „GutdasistdieFormaberwoistderInhalt“ – sind teilweise atemberaubend. Nötig werden sie nicht nur, wenn man zu Hause die alten Griechen, Römer und Chinesen adaptiert und sich dann zu Kubas Dichterrunde auf den Weg macht. Nötig werden sie auch nicht nur, weil man bei dem Komponisten Paul Dessau Schulden hat und ihm also, 1970 immerhin, das verlangte LENIN-LIED liefert, oder für den vom Zentralrat der FDJ herausgegebenen Band „Wir singen mit unseren Freunden“ Nachdichtungen sowjetischer Heldenlieder in Serie auswirft.

Denn auch Gedichte wie „EIN SOWJETMENSCH; GRADE UND SCHLICHT“ und „EIN WORT AN DEN GENOSSEN STALIN“ fanden sich im Nachlaß, und daß sie wegen Aufwiegelei oder mangelnden Reimeswillens von der Obrigkeit zurückgewiesen worden wären, möchte man doch nicht denken: „Sie führten, und wir wußten: es muß glücken, / der Feind wird seiner Strafe nicht entgehn. / Drum will ich Ihnen fest die Hände drücken, / mich bis zur Erde neigen, wo Sie stehn“ – ein Verskratzfuß unter anderen vor dem Gen. Stalin, so gut geölt vorgetragen, daß es fast zum Lachen ist.

„Heißa, lustig, heißa“, „Oj ich fahre hin und her“ oder „Junge Slawen, erhebt euch!“ – das Geldverdienen und -zurückzahlen ist das eine. Das andere möglicherweise der Glaube an eine gute Sache und später wenigstens noch, wie Frank Hörnigk nicht müde wird zu betonen, an „die Utopie“. Vor allem aber beschleicht einen bei der Lektüre dieser frühen Texte doch zunehmend das Gefühl, daß hier jemand dabei ist, sich in allen ihm erreichbaren Tonarten und unter Einsatz aller Fertigkeiten für den ganz großen Auftritt einzusingen.

Zu diesem Zweck nimmt er Haltungen ein, Ziel und Ende der Übung: das Werk. Denn in den Jahren zwischen 1949 und 1969, deren Gedichte weit über die Hälfte der Seiten füllen, hat Müller sich eben nicht nur literarisches Material aus allen möglichen Weltgegenden und Zeiten anverwandelt und daneben Parteiverse geklopft. Als Notate in Gedichtform erscheinen vielmehr auch Vorstellungen zu späteren Stücken, während andererseits ein Banausenlied unter dem Titel „KULTURFAHRT NACH CHEMNITZ“ (Untertitel: „Blume von Hawai“) in die Operette führt: “... aber wenn die Soubrette / bloß keine Zahnlücke hätte“.

„EPIGRAMME ÜBER LYRIK“ postulieren „den Dichter (...) irdisch und motorisiert“, und „kleine Köpfe“ fragen: „Was sagt uns dieser Jemand eigentlich? / Hat er die Rolle der Bodenreform nicht begriffen?“ Neben Agitprop- Schmiß und sozialistischer Genre- Poesie stehen Müllers „BILDER“ und der „GLÜCKLOSE ENGEL“, dazu Alltagsszenen „zwischen Trümmerwand und Baugerüst“ aus dem Berlin der Verrücktgewordenen und Zerstörten.

Und dann wieder brechtet und sentenzt es ordentlich – „Der Hammer ist gut für den Nagel / Für die Wahrheit ist er nicht gut“ –, ein anderes Gedicht beginnt mutig auf das Wort „Einsam“, und dann wird nichts draus. Und dennoch, selbst da: die stumme Botschaft „Zitieren Sie mich, ich bin erstklassig!“ scheint jeder dritten Zeile eingeschrieben.

Eine riesige Sprach-Probebühne ist diese Lyrik zwischen 1949 und 1969, während Müller schon an den „Produktionsstücken“ arbeitet und 1961 seine „Umsiedlerin“ verboten wird. Da fliegt der Dichter aus dem Schriftstellerverband und schreibt zwecks Lebensunterhalts auch mal Krimis unter dem Pseudonym Max Messer, Gedichte aber dann in den siebziger und achtziger Jahren kaum mehr: die Schreibenergie geht fast ausschließlich in die Stücke, die von den artistischen Versübungen des Anfangs sichtbar profitieren und Müller schließlich zum Popstar und Guru der Theater-Internationale machen.

Bis zum Jahr 1989. Danach geht die „brutale Chronologie“, Heiner Müllers Ordnungsprinzip für den Gedichtband von 1992, auf dem auch der neue Band basiert, dem Ende zu. Für noch einmal hundert Seiten kehrt hier der Lyriker Müller zurück, aber wie anders nun: „Die Masken sind verbraucht fin de partie“. Das heißt natürlich nicht, daß er es sich etwa verkneifen würde, dem großen Gedicht „AJAX ZUM BEISPIEL“ als Motto die Volksweisheit „Babypille fauler Zauber / Ajax hält das Becken sauber“ voranzustellen oder die sprichwörtliche Wendung „im Kreml brennt noch Licht“ mit einem Blick auf die beleuchteten „Etagen der Kulturverwaltung“ ironisch wiederaufleben zu lassen.

Aber ganz gleich, ob Müller sich nun selbst als „VAMPIR“ begegnet, dessen Werk an die vermauerte „Macht“ als seinen Widerpart gebunden war, ob er Tasso, Lenz, Büchner, Hölderlin und Montaigne in einem Gedicht versammelt oder zwei bajuwarische Geschäftsleute an einer Hotelbar „Asien verteilen“ läßt – nun gibt es keine Proben mehr, alles ist ernst. Im eingefrorenen „TRAUMWALD“ schließlich trifft der Schreibende auf ein „Kind in Rüstung Harnisch und Visier / Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt“ – „und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich/ Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.“

Da möchte man, müßte man all diese Gedichte noch einmal ganz von vorn lesen. Und auch den ehrgeizigen jungen Mann, der vierzig Jahre zuvor vom „kappadokischen Wildbret“ schwärmte, um sich alsdann zum Parteidichterzirkel zu verfügen, sähe man danach noch einmal als einen anderen.

Heiner Müller: „Werke. Band 1: Die Gedichte“. Hrsg. von Frank Hörnigk. Suhrkamp. 350 S., 44 DM