Völlig losgelöst

„Calling Laika“: Die deutsch-englische Gruppe Gob Squad mit ihrer Auto-Astro-Performance in Frankfurt am Main und dieses seltsame Gefühl von Verlorenheit  ■ Von Jürgen Berger

Mitte 1955 verkündete Dwight D. Eisenhower, die USA werden demnächst einen Satelliten in die Erdumlaufbahn schicken, worauf die Sowjets postwendend die Herren Sedow und Ogorodnikow zum Kongreß der „Internationalen astronautischen Förderation“ nach Kopenhagen expedierten.

Zum ersten Mal streckten führende sowjetische Astrowissenschaftler ihre Fühler im feindlichen Westen aus und berichteten daheim begeistert, die Amerikaner hätten tatsächlich Mäuse und Affen vierhundert Kilometer in die Höhe geschossen. Ob das stimmte, wußte niemand so recht, aber es kam, wie es kommen mußte: Schon bald würde Major Tom, oder ein gewisser Herr Gagarin, zur Bodenstation funken, die unbeschreibliche Leichtigkeit der Schwerelosigkeit erzeuge so ganz nebenbei auch ein seltsames Gefühl von Verlorenheit.

Bereits im Oktober 1957 hatten russische Astrophysiker die Nase vor der Nasa und einen künstlichen Erdsatelliten im Orbit, was wiederum Folgen für ein kleines Hündchen mit Fledermausgesicht irgendwo am Rande der berüchtigten Hungerwüste von Taschkent haben sollte. Es hieß Laika und erblickte zufällig in zu großer Nähe der weltgrößten Weltraum-Startbasis Tjuratam (oder auch Baikonur) das Licht der Welt. Auch in seinem Fall kam es, wie es kommen mußte, und am 3. November des Jahres 1957 wußte Laika nicht so recht, ob sie ihren Augen trauen sollte. War sie tatsächlich das erste terrestrische Lebewesen, dem ein Blick auf den blauen Planeten vergönnt war?

Zehn Tage währte Laikas völlige Losgelöstheit inklusive globalterrestrischem Sightseeing. Dann wurde es ihr plötzlich seltsam heiß, was wiederum dazu führte, daß es in diesen Tagen auf dem Parkplatz des Frankfurter Bockenheimer Depots zufällig so kam, wie es kommen mußte: In der hinteren Ecke des Kiesplatzes standen mehr als dreißig Autos im Kreis und warteten darauf, mit Zuschauern bestückt zu werden. Die kamen dann auch und wurden nach dem Zufallsprinzip in Vierer- bis Sechsergruppen zum Einsteigen bewegt, um dort der Dinge zu harren, die sich im zirkusartigen Rund der Pkw-Wagenburg ereignen sollten.

Auch sie wußten nicht so recht, wie ihnen geschah: Waren sie Wildwest-Pioniere und irgendwo da draußen feindliche Indianer? Nahmen sie an einer Ufo-Seance teil? Oder saßen sie mit anderen Pfadfindern im Auto und hatten jeweils einen in ihren Reihen, der am Ticketschalter zufällig als Scout bestimmt worden war und sich nun als Herr des kleinen Survival-Packets mit Schokolade (Marke „Eat This“), etwas Bindfaden, Scheuertüchern und Lageplänen fühlen konnte?

Aber dann ging es los, und es war klar, daß es in der nächsten Stunde um das Hündchen Laika gehen würde. Oder besser: Daß die englisch-deutsche Performance/ Aktion-Gruppe Gob Squad mit Stammsitz in Nottingham genau auf diesem Parklatz das typische Laika-Gefühl äußerster Verlorenheit auf engstem Raum entstehen läßt.

Per Autoradio wurde man angewiesen, Lichtzeichen an die anderen Autos zu geben oder seinem Autonachbarn zuzulächeln, während die Gob-Squad-Aktivisten draußen in der Kälte die Mythen von Einsamkeit und Überleben zelebrierten: Gänge über das hellerleuchtete Rund, Schüsse eines Heckenschützen, Niederstürzen und Tod; dann ein VW-Passat, der irrwitzig in die Arena rast, auf daß die Insassen herausspritzen und etwas später eine Frau einsteige und sich per Autoradio über ihre Einsamkeit befragen lasse.

Bis dahin hatten sich die Partikel der vor mehr als vierzig Jahren verglühten Laika noch immer nicht materialisiert, dafür war ein Gob-Squad-Aktivist von einem Gabelstabler immer höher Richtung All gehievt worden und hatte sein ganz spezielles Gefühl der Verlorenheit zu überspielen versucht: Jeder kennt es, das berühmte Pfeifen im Walde in Form der Selbstvergewisserung, sich etwas über sich selbst zu erzählen. Etwas später kam derselbe Aktivist noch einmal im Eisbärkostüm mit dem Kopf unter dem Arm, wollte im Schneegestöber einen roten Wimpel plazieren und führte einmal mehr vor, daß Gob Squad zwar Gefühlslagen inszeniert, aber keinen Wert auf ausgefeilte Inszenierungen legt.

Deutlich wurde das schon im letzten Jahr, als die Gruppe während der Theaterskizzen auf der documenta X auf sich aufmerksam machte. Der Regisseur Stefan Pucher hatte in einer stillgelegten U-Bahn-Haltestelle mit der Aktivistengruppe alltägliches Warten choreographiert, während die Werbeflächen der Haltestelle plötzlich zu erzählen begannen, was sich ereignen wird. Etwa, daß der Mann im Mantel gleich ein paar Schritte gehen und dann zusammenbrechen oder ein anderer Mann seinen Kopf in die Papiertüte einer Frau stecken wird.

Eine Inszenierung des angekündigten Zufalls, die auch die neue Arbeit von Gob Squad prägt, obwohl Pucher nicht Regie führte, sondern Ende April mit „Bodycheck“ eine gesonderte Inszenierung am Theater am Turm zur „Sex Culture im Jahr 2000“ vorstellt.

Der Witz solcher „realen“ Inszenierungen ist, daß man zwar gesagt bekommt, was sich ereignen wird, das tatsächliche Geschehen dann aber trotzdem überrascht. Unmerklich wird man Teil der Inszenierung. Und so kam es, daß das Hündchen mit dem Fledermausgesicht zwar nirgends gesichtet wurde, dafür aber Erdenbewohner des ausgehenden Jahrtausends wie Astronauten in Pkws saßen und mit ihren Zufallsbekanntschaften alltägliches Überleben simulierten.

Aus dem Autoradio kamen Sphärenklänge und Fußball-WM- Reportagen, auf daß sich im Pkw ein Wir-Gefühl einstelle. Und am Ende durfte jeder einen kleinen weißen Luftballon zur Allbefruchtung aufsteigen lassen. Kitschgefahr lag in der Luft, aber es ging ja um das kleine Hündchen. Gegrüßet seist du, Laika!