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„Keine menschlichen Bestien“

■ Forensik völlig überbelegt / Neuer Anbau löst Problem nur vorübergehend

Nur das dicke Panzerglas vor den Fenstern der weißgetünchten Villa im Park des Zentralkrankenhauses-Ost läßt von außen auf den Charakter des Gebäudes schließen. Hinter der gläsernen Tür sichert ein schweres Eisengitter den Eingang der Station 15 für forensische Psychiatrie. 54 Männer leben zur Zeit in der geschlossenen Abteilung für psychiatrisch kranke Straftäter. Sie haben getötet, vergewaltigt, Brände gelegt – ohne schuldfähig zu sein. Von ihren Richtern als krank und gefährlich eingestuft, sollen sie auf den Stationen 15 und elf therapiert werden. Doch die Voraussetzungen dafür sind derzeit schlecht. Die Forensik ist überbelegt. Auf der Station 15, die 17 Plätze vorhält, müssen 24 Patienten betreut werden. „Die Unterbringung ist menschenunwürdig, die Heilungsmöglichkeiten sind eingeschränkt“, sagt Professor Peter Kruckenberg, ärztlicher Leiter im ZKH-Ost. Auch die Station elf, wo die Patienten auf ihre Entlassung vorbereitet werden sollen, sei in „einem beklagenswerten Zustand.“

Die Forensik-Patienten, für die ein Einzelzimmer angemessen wäre, um den Therapieerfolg nicht zu gefährden, leben zum großen Teil in Zwei- oder Dreibettzimmern. Mitunter werden Patienten sogar in Isolierzellen untergebracht. Es gibt nicht genügend Besprechungs- und Therapieräume. „Die Patienten können kein Gespräch unter vier Augen führen“, berichtet Kruckenberg. „Wenn die Patienten ihre Anwälte oder Angehörigen sprechen wollen, müssen alle anderen auf ihre Zimmer.“

Die Deputation für Gesundheit hat jetzt fünf Millionen Mark für einen Anbau bewilligt. Die übrigen Kosten von einer Million Mark trägt das ZKH. Doch der Baubeginn im Herbst läßt Kruckenberg nur kurz aufatmen. „Wenn die öffentliche Diskussion anhält, wird die Schwelle für Entlassungen immer höher gesetzt, und wir stehen in Null Komma Nichts wieder vor dem gleichen Problem“, fürchtet er. Die Pläne für einen weiteren Anbau hat Kruckenberg deshalb schon in der Schublade. „Nur wenn die Leute ein vernünftiges Umfeld haben, besteht die Chance, daß die Therapie auch Erfolg hat.“

Die gelben Wände auf Station 15 schaffen es nicht, den Räumen einen freundlichen Anstrich zu verleihen. Der Linoleum-Fußboden knirscht kaum hörbar unter den Schuhsohlen. Die Tür zum Hof ist mit einem Eisengitter versperrt. Der Hof ist von einer etwa vier Meter hohen Mauer umgeben. „Die Ängste in der Bevölkerung sind natürlich berechtigt“, räumt Dr. Gerd Titgemeyer, Leiter der Forensik, ein. „Aber unsere Patienten sind keine Bestien, die Menschen anfallen. Es sind sehr selbstunsichere Menschen, die nur in bestimmten Situationen gefährlich werden können.“

Die Forensik-Patienten haben keinen festen Entlassungstermin. Einmal im Jahr, bei Suchtkranken sogar alle sechs Monate, setzen sich drei Richter, der Anwalt des Straftäters, die Klinikleitung, der Betreuer und der Therapeut zusammen, um über Lockerungen oder Entlassung zu entscheiden. Wenn das Gremium einen Rückfall befürchtet, muß der Patient in der Forensik bleiben, und zwar unabhängig von der Strafhöhe, zu der er ursprünglich verurteilt worden ist. Im Durchschnitt verbringen die Patienten drei bis vier Jahre in der Forensik. Der „älteste“Patient lebt seit 22 Jahren dort.

Nach ihrer Entlassung werden die Patienten ambulant betreut. Von diesem Angebot machen derzeit 33 ehemalige Patienten Gebrauch. „In den vergangenen Jahren hatten wir keinen gravierenden Rückfall“, sagt Titgemeyer. Erst vor kurzen seien zwei Sexualstraftäter aus der Forensik entwichen, ohne rückfällig zu werden. „Rückfälle kann man aber nicht vermeiden“, gibt er unumwunden zu. „Die Gesellschaft muß sich entscheiden, ob sie die Täter therapieren oder nur verwahren will. Therapie ist natürlich teuer“, sagt Titgemeyer. Der Pflegesatz in der Forensik liegt bei 500 Mark pro Tag. „Durch die Forensik gibt es zumindest ein kalkulierbares Risiko. Wenn man die Leute nur einsperrt, mit einem Gitter vor der Nase, werden sie tatsächlich gefährlich.“ Kerstin Schneider

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