Analyse
: Alle sind verdächtig

■ Die Schleierfahndung soll weggefallene Grenzkontrollen ersetzen

Die neue Freizügigkeit im Reiseverkehr bringt manche Politiker auf dumme Gedanken. Übereinstimmend forderten jetzt Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) und sein bayerischer Amtskollege Günther Beckstein (CSU) die bundesweite Einführung der sogenannten Schleierfahndung. Gemeint ist damit die Möglichkeit, BürgerInnen auch fernab der Grenze ohne konkreten Anlaß und Verdacht zu kontrollieren. Kanthers Vorschlag zielt in zwei Richtungen. Zum einen soll der Bundesgrenzschutz (BGS) noch bis zu 30 Kilometer von der Grenze entfernt verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen können. Bisher ist dies nur möglich, wenn ein Verdacht auf illegale Einreise besteht. Eine Änderung des BGS-Gesetzes könnte noch vor der Bundestagswahl kommen, erklärte ein Sprecher Kanthers.

Daneben soll die Schleierfahndung auch in alle Landespolizeigesetze eingeführt werden, um die Kontrolle von Unverdächtigen flächendeckend zu ermöglichen. Eine entsprechende Regelung existiert seit 1995 in Bayern. Nachgezogen haben bereits Baden-Württemberg, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Dort können an allen Autobahnen, wichtigen Straßen, Raststätten und auf Bahnhöfen „anlaßunabhängige Kontrollen“ durchgeführt werden. „Bei jeder vierten oder fünften Kontrolle finden wir Hinweise auf Straftaten“ heißt es im Münchener Innenministerium. Allerdings sind solche Statistiken mit Vorsicht zu genießen, weil die Beamten beim Aufschreiben der „Fehlgriffe“ in ihren Einsatzprotokollen erfahrungsgemäß nicht so genau sind.

Der ehemalige Düsseldorfer Polizeipräsident Hans Lisken lehnt die Schleierfahndung ab: „Hier wird mit der menschenrechtlichen Vorgabe gebrochen, unverdächtige Bürger von Staats wegen in Ruhe zu lassen.“ Baden-Württembergs Innenminister Thomas Schäuble verweist demgegenüber auf das große „Verständnis“ der Bevölkerung für die Polizeimaßnahmen, und Günther Beckstein betont, daß sich der Zeitaufwand häufig auf „eine halbe Minute“ beschränke.

Dies gilt allerdings nur, wenn man Paß oder Personalausweis in der Tasche hat – wozu man aber gesetzlich nicht verpflichtet ist. Im übrigen ist jede Polizeikontrolle eine leicht brenzlige Situation, bei der man lieber nicht unversehens ins Handschuhfach greifen sollte.

„Es geht nicht darum, Oma Lina beim Brötchenholen zu kontrollieren“, versucht man im Bundesinnenministerium zu beruhigen. Vertraut wird auf das Gespür der Polizisten vor Ort. Diese können nicht nur entscheiden, ob kontrolliert wird, sondern auch wie intensiv. Die verdachtsunabhängigen Kontrollen erlauben der Polizei also vor allem ihren Vermutungen (man könnte auch sagen: ihren Vorurteilen) freien Lauf zu lassen. Christian Rath