Filigrane Lebenswelten ohne Arbeit

Zufrieden und arbeitslos, gibt's das? Drei Erwerbslose erzählen, wie sie leben  ■ Von Christine Holch

Es ist still in der Wohnküche des Altbauhauses im Univiertel. Im Hinterhof peitscht der Wind die Birken. Günter Gruber* gießt Tee auf, stellt den Küchenwecker. Der 56jährige ist arbeitslos. „Um 15.15 Uhr muß der Brief an meine Freundin in Bayern im Kasten sein, damit er am nächsten Tag ankommt.“Der Fixpunkt jedes Tages.

Bis vor fünf Jahren arbeitete Gruber als Druckvorlagenhersteller in der Bildreproduktion. „Aber heute läuft da alles über Computer.“Vom Arbeitsamt sei nie ein Angebot gekommen. Grubers Konsequenz: „Ich hab' das Berufsleben inzwischen ad acta gelegt.“Die Zeit, die er nun hat, stellt er anderen zur Verfügung, ob als Gesprächspartner bei Krisen von FreundInnen, als Pfleger seiner 86jährigen Mutter oder als Hausmann in der Familie seiner Freundin, die berufstätig ist und zwei Kinder hat. Sozialarbeit im privaten Umfeld.

Keine Krisen? „Doch, täglich.“Meist morgens im Bett. Existenzängste. Was wäre, wenn ihm die preiswerte Wohnung gekündigt würde? Gruber lebt von 1.500 Mark im Monat. Da ist er schon fast froh über den Wasserschaden in der Küche, wegen dem er die Miete mindert. Um sich nicht in Angst zu verlieren, steht Gruber jeden Tag um acht Uhr auf. „Ich habe allmählich gelernt, ohne Sicherheit zu leben.“Aber das Lebenskonzept sei „filigran“. Schon kleine Veränderungen wirken sich aus.

Sein Arbeitsberater hat ihn mittlerweile ausgemustert. „Wenn Sie die Jahre bis zur Frühverrentung über die Runden kommen, unternehme ich nicht mehr viel“, habe er gesagt. Zwar träumt Gruber oft von seinem früheren Betrieb, sieht die Kollegen ein Betriebsfest feiern, während er nur als Beobachter dabeisteht – „aber eigentlich will ich in diese Art Arbeitswelt gar nicht mehr. Ich hasse das immer Gleiche, ich hasse Monokulturen.“Und doch, wenn ihm jetzt einer einen Job anböte, mit Einarbeitungszeit, „das wäre schon toll.“

Immer öfter trifft Edgar Kemp Erwerbslose, die gern arbeiten würden, aber nicht mehr um jeden Preis. Kemp bietet in Hamburg beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt Kurse für Erwerbslose an. Anfangs nur Bewerbungstrainings. Nun, wegen der wachsenden Nachfrage, auch Orientierungskurse. Dort denken Arbeitslose etwa darüber nach, wie man auch ohne Erwerbsarbeit zufrieden sein kann.

Immer öfter seien auch höher Qualifizierte länger arbeitslos, sagt Kemp. Deshalb gebe es immer mehr Menschen, die sich vorstellen können, längere Zeit ohne Arbeit zu leben. Ist es also ein Mythos, daß alle Arbeitslosen unbedingt arbeiten wollen? „Ja“, sagt Kemp nach kurzem Zögern, „natürlich wollen alle in einem bestimmten Alter einer Erwerbsarbeit nachgehen – anspruchsvoll und gut bezahlt. Aber für die meisten gibt es eine solche Arbeit nicht.“

In Kemps Seminar kommen häufig Menschen Ende 40, Anfang 50, die sich fragen, ob sie sich das neue PC-System oder das geforderte Aufbaustudium wirklich noch antun sollen. Zunehmend suchen aber auch Menschen Rat, die noch gar nicht in den Beruf gefunden haben. AkademikerInnen, die nach dem Examen merken, daß sie das Falsche studiert haben, die seither nur gejobbt haben. Sie brauchen viel Zeit, um rauszufinden, was sie eigentlich möchten. „Bis sie an den Punkt kommen, an dem sie zu kämpfen anfangen“, sagt Kemp.

„Ich habe eigentlich immer richtig schön funktioniert“, sagt Anna Wiese*, kaum daß sie auf ihrem Futonsofa unter dem selbstgemalten Ölbild Platz genommen hat. Immer ist sie eine gute Schülerin gewesen, hat gleich nach dem Abitur Grafikdesign studiert. Doch nach dem Studium, in der Rezession 1983/84, findet sie keine Arbeit. In der Welt der Werbeagenturen fühlt sie sich ohnehin nicht wohl: „Das ist eine extreme Ellbogengesellschaft, auch sehr oberflächlich.“Sie beginnt ein zweites Studium, Iranistik. Weil der damalige Freund, ein Iraner, wieder heimwill. Aber sie bekommt keinen Boden unter die Füße in dem altphilologischen Studiengang.

Sie jobbt beim Hamburger Paketpostamt. Zuerst halbtags, dann Vollzeit. „Ich hab' da richtig geknüppelt.“Der Vater schaute immer nur demonstrativ aus dem Fenster, wenn sie von der Post erzählte. 1993, nach zehn Jahren Schichtdienst, zieht sie den Schlußstrich. Das Arbeitsamt zahlt eine Fortbildung: „Reinzeichnen. Layout, Desk Top Publishing“. Sie findet wieder keine Arbeit. Die Arbeitgeber wollen jemanden mit Berufserfahrung, Anfang 30. Anna Wiese, mittlerweile Ende 30, fällt in ein tiefes Loch. Das war 1995.

Heute, mit 40, hat sie erstmals eine gewisse Gelassenheit erreicht. „Okay, dann bin ich eben arbeitslos“, sagte sie sich irgendwann und nahm sich die Zeit, über sich nachzudenken. „Ich brauchte diese lange Auszeit, um endlich ein Gefühl für mich zu bekommen, mich gegen Anforderungen von außen abzugrenzen.“Sie hat sich ein Gerüst gebaut, das die Woche zusammenhält: Montag abend lernt sie bei der Volkshochschule Englisch, dienstags ist die Selbsthilfegruppe für Alleinlebende dran, mittwochs Sport, donnerstags die Therapiegruppe. Und tagsüber malt sie ehrenamtlich Banner für Greenpeace-Aktionen in Wilhelmsburg oder jobbt in einer Bilderrahmenwerkstatt.

Wie findet man heraus, was man jenseits des erlernten Berufs noch machen könnte? „Das Arbeitsamt drückte mir nur ein Buch mit Ausbildungsberufen in die Hand.“Erst mit einer Mitarbeiterin von EFA, der Informations- und Beratungsstelle Frau und Beruf in Hamburg, entwickelte sie in langen Gesprächen eine Perspektive: in Museen Ausstellungen vorzubereiten und aufzubauen oder im Theater in der Bühnenwerkstatt zu arbeiten. Jetzt bemüht sich Anna Wiese um Praktika.

Zehn bis fünfzehn Prozent der Erwerbslosen lernen, ihre Zeit zu nutzen und sie auch anderen zur Verfügung zu stellen, sagt Edgar Kemp. „Und der Anteil wird immer größer.“Bei Volker Eggers* einen Termin zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Er muß erst im Kalender nachschauen. Eggers arbeitet viel. Er hat in Öjendorf einen Beratungstreff für Arbeitslose aufgezogen. Eine sehr befriedigende Arbeit, sagt er. Geld kriegt er dafür nicht. Außerdem ist Eggers Schriftführer bei der SPD, Kommunionshelfer in einer Gemeinde, lernt Trompete und Englisch und managt den Haushalt – seine Frau verdient als Lehrerin den Lebensunterhalt.

Eigenverantwortlich und ohne Termindruck – so gefällt dem 50jährigen das Arbeiten. Trotzdem war es ein Schock, als der Tonstudio-Ingenieur seinen Vertrag beim NDR nicht verlängert bekam. Damals wurde die Tontechnik digitalisiert. Drei Jahre ist das jetzt her. Vom Arbeitsamt bekam er gerade mal drei Stellen angeboten, darunter eine als Reparateur von Videorekordern in Köln. Zwei Jahre hat er gekämpft: „Wenn ich mich anstrenge, kriege ich eine Stelle.“Dann verabschiedete er sich von dieser Vorstellung. Seitdem geht es ihm besser. Ein zufriedener Arbeitsloser? Eggers zögert, er ist ein bedächtiger Mensch. „Ja.“

Wenn da nicht manche Mitmenschen wären. „Die Störung, die Arbeitslosigkeit bedeutet, wird oft auf die Person des Arbeitslosen bezogen“, sagt er. Wenn einer ihn fragt, wie es ihm gehe, sagt er: „gut“. Wenn es ein Bekannter ist, der von Eggers Arbeitslosigkeit weiß, fragt der weiter: „Ach, haben Sie denn wieder Arbeit?“– „Ich bin bei mir selbst angestellt.“Ratlosigkeit beim Fragenden.

„Arbeitslosigkeit darf nicht attraktiv sein“, sagt Edgar Kemp, „sonst werden der Leistungsgesellschaft die Grundlagen entzogen. Arbeitslose müssen vom Lebensgefühl her immer eine Stufe tiefer stehen. Ein zufriedener Arbeitsloser ist die totale Provokation.“

* Namen von der Redaktion geändert