Fremde Zukunft

■ Politik in der Transformationsgesellschaft

Man hatte den Gedanken schon fast aufgegeben, daß Berlin ein Ort sein könnte, an dem gesellschaftliche Entwicklungen schärfer und genauer beobachtet werden können als andernorts. Vor dem Fall der Mauer wurde hier die WG- anarchische Alternative zur Bundesrepublik ebenso ge2pflegt und gehegt wie der intellektuelle Einspruch gegen die Demokratische Republik aufrechterhalten.

Nach dem Fall der Mauer fand sich die kurzfristige Euphorie rasch zugunsten der Einsicht gedämpft, daß kaum eines der alten gesellschaftlichen Beschreibungsmuster länger zutreffend ist. Die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft bricht sich an den Genehmigungsverfahren der Behörden.

Die Konsumgesellschaft scheitert am Mangel an Arbeitseinkommen. Und der Wohlfahrtsstaat kann kaum noch zugunsten eines Verzichts auf Kultur und Wissenschaft finanziert werden.

Nirgendwo mehr als in Berlin (und vielleicht in Leipzig) wird der Eindruck zum Programm, daß das Schicksal der kapitalistischen Gesellschaft ein politisches ist. Die Wende war von der Politik vorbereitet (Gorbatschows Perestroika), sie war von der Politik betrieben (Genschers Gespräche mit Ungarn), und sie war von der Politik zum Abschluß gebracht worden (Kohls Wiedervereinigung). Und auch jetzt entscheidet sich die Frage, ob Europa ein Hauptakteur oder ein Opfer der globalisierten Weltwirtschaft ist, vornehmlich auf dem Terrain der Politik.

Richtig ist daran zweierlei. Erstens hat die Politik von ihren Entscheidungen über soziale Sicherungssysteme bis zur Frage eines Holocaust-Denkmals wesentlichen Anteil an der Neufiguration des gesellschaftlichen Gedächtnisses. Was ist uns wichtig? Woran erinnern wir uns? Von welchen Erwartungen können wir uns allmählich verabschieden? Zaghaft lassen wir den Gedanken zu, daß wir nicht wissen, wie es um die Zukunft dieses Landes bestellt ist.

Der Erfolg Schröders ist der Erfolg einer Figur, die in ihrer ganzen Ambivalenz zwischen populistischer Industriepolitik und machtvollem Führungsanspruch immerhin wieder deutlich macht, daß die Zukunft nicht entschieden ist, sondern entschieden werden muß.

Und zweitens hat die Politik wesentlichen Anteil an der Einsicht, daß in der modernen Gesellschaft das Exitproblem (wie die Ökonomen sagen) großer Organisationen ungelöst ist. Wir können Organisationen zwar gründen, aber es fällt uns schwer, sie wieder aufzulösen. Der Transformationsprozeß in Osteuropa ist in dieser Hinsicht strikt vergleichbar mit den Kapitalmarktaktionen eines amerikanischen Kapitalismus, der für Europa Beispiel und Abschreckung zugleich ist. Wie verabschiedet man große Organisationen, die sich ökonomisch, technologisch und ökologisch überlebt haben (von ihrem bedrohlichen Zugriff auf die Möglichkeit der Demokratie zu schweigen)?

Die Berliner Ökonomie steht im Zeichen einer oszillierenden Politik. Die Entscheidung für die preußische Steinarchitektur und die großen Investoren kann nicht verheimlichen, daß die Zukunft von anderen erfunden wird. Dirk Baecker