■ Die algerischen Machthaber sind nicht demokratisch legitimiert – das ist ein Grundproblem bei der Bekämpfung des Terrorismus
: Erschwerte Wahrheitssuche

Es droht wieder still um Algerien zu werden. Zwar verüben Islamisten weiter Massaker und liquidieren die Sicherheitskräfte täglich irgendwo im Lande Terroristen, oft zu Dutzenden. Doch die Nachrichten darüber werden wieder in die Kurzmeldungsspalten abgeschoben. So will es nun mal die hartherzige Logik der medialen Vermarktung des Grauens. Und so wollen es, darf man vermuten, auch die Machthaber vor Ort. Nach den schlimmsten Massakern während des Ramadan haben sie über hundert Journalisten – allerdings nur für wenige Tage – ins Land gelassen. Es ging ein Schrei des Entsetzens um die Welt. Doch es sollte beim Schrei bleiben, ernsthafte Recherchen vor Ort waren und sind nicht möglich, waren und sind nicht erwünscht. Eine internationale Kommission zur Untersuchung des Geschehens lehnt Algerien strikt ab.

Der Schrei des Entsetzens hat aufgerüttelt. Die beiden französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann haben in Reportagen in der Zeit und im Spiegel das Grauen, das sie vor Ort erfaßt haben und das sie erfaßt hat, eindrücklich geschildert. Doch in der folgenden Debatte in den französischen Medien haben eigentümlicherweise gerade diese beiden Philosophen Denkbarrieren aufgestellt. „Die Massaker und diejenigen, die sie verüben, zu stoppen, das ist die einzige Frage, um die es gehen kann“, schreibt Lévy, „der Rest ist unverantwortliches Geschwätz, eine Beleidigung der Opfer.“ Lévy unterstellt schlechterdings, daß alle Massaker von Islamisten verübt wurden. Mit „Geschwätz“ meint er das Nachfragen nach den Hintergründen und Zusammenhängen. Noch deutlicher ist Glucksmann. „Wer eine Untersuchungskommission verlangt“, warnt er, „will die eigentlichen Verbrechen nicht benennen.“ Das ist eine unverschämte Unterstellung.

Daß gerade Philosophen, die Vertreter einer Wissenschaft also, für die der Zweifel ein konstituierendes Moment par excellence ist, hier keine Fragen und nur Bekenntnisse zulassen wollen, hat vermutlich mit der Angst zu tun, ein Problem könnte zerredet und Verbrechen könnten relativiert werden. Diese Angst treibt auch Jack Lang um, den früheren Kulturminister Frankreichs und jetzigen Präsidenten der außenpolitischen Kommission des Parlaments. „Mitunter wurde an der Urheberschaft der kriminellen Handlungen gezweifelt“, schreibt er bezogen auf die von Islamisten verübten Massaker, „diese Verwirrung nährt die Sache des Terrorismus. Sie schwächt das algerische Volk in diesem gnadenlosen Kampf gegen seine Feinde.“ Kurzum, so darf man folgern: Wer zweifelt, hilft den Terroristen – zumindest objektiv. Die Angst nährt das Bedürfnis nach ideologischer Frontbegradigung, nach einem manichäischen Weltbild.

Nun gibt es an den islamistischen Massakern nichts zu beschönigen, sie gehören in Bausch und Bogen verdammt. Doch müssen Fragen erlaubt sein: Weshalb haben die Soldaten bei verschiedenen Massakern nicht eingegriffen, obwohl sie in der Nähe kaserniert waren? Hatten die Soldaten einfach Angst? Trauten sich untere Chargen nicht, Befehle zu geben, die von oben nicht gedeckt waren? Gab es eine klammheimliche Freude, weil der Terror die Bewohner einstiger FIS-Hochburgen traf? Sind die islamistischen Terroristen der GIA teilweise vom militärischen Geheimdienst unterwandert und gesteuert? Fragen über Fragen, die kein europäischer Journalist oder Philosoph bei einem polizeilich überwachten Kurzbesuch klären kann. Wahrscheinlich gibt es keine generelle Antwort, vermutlich stimmt mal dieses, mal jenes. Wir können nur spekulieren. Daß islamistische Terroristen Dorfbewohner in Massen verstümmelt und auf entsetzliche Weise hingeschlachtet haben, daran besteht kein vernünftiger Zweifel. Wie die Militärs in ihrem Kampf gegen die Terroristen vorgehen, bleibt andererseits weitgehend im dunkeln. Wir können es ahnen, wenn wir in Agenturmeldungen lesen, daß soundso viele Terroristen bei einer Razzia getötet wurden. Von Gefangenen ist nie die Rede.

Dies weist auf ein Grundproblem der algerischen Tragödie hin. Daß die Militärs im Kampf gegen den Islamismus die Menschenrechte beachten, glaubt ernsthaft wohl kein Beobachter des Geschehens. Es gibt aber in Algerien nicht nur keine rechtsstaatlichen Verhältnisse, sondern – und das macht eine Lösung so außerordentlich schwierig – auch keine demokratisch legitimierte Macht, die solche durchsetzen könnte. Abgesehen von der Partei des Präsidenten Zéroual haben sämtliche Parteien, ob in der Opposition oder an der Regierung beteiligt, von massivem Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen gesprochen, bei denen im übrigen die islamistische FIS, die aus den vorangegangenen Wahlen als Sieger hervorgegangen war, nicht mehr zugelassen war. Die reale Macht – daran zweifelt auch in Algerien niemand – liegt ohnehin nicht bei den gewählten zivilen Instanzen, sondern bei der Armee. Genauer gesagt einer Nomenklatura, über deren Zusammensetzung niemand Genaues weiß, die deshalb in Algerien gemeinhin „La nebuleuse“ genannt wird, was sich etwa mit „Nebelschwade“ übersetzen ließe.

Seit der Unabhängigkeit des Landes liegt in Algerien die Macht ununterbrochen in den Händen der Armee, und deren oberstes Ziel war immer die Erhaltung der Macht. Zu diesem Behuf hat sie 1988 die demokratische Öffnung zugelassen. Zu diesem Behuf hat sie die Islamisten hochgepäppelt, als die Demokraten zu stark wurden. Und zu diesem Behuf hat sie 1992 die demokratischen Wahlen abgebrochen, weil die Islamisten sie gewonnen hätten. In Algerien ging es nie um einen Kampf zwischen Demokratie und Laizismus auf der einen Seite und Fundamentalismus auf der andern Seite, wie uns von offizieller Seite vorgelogen wird. Wenn es so wäre, wäre der bewaffnete Islamismus wohl längst zu jenem Restterrorismus geworden, als den ihn die Machthaber so gerne präsentieren. Gerade das massive Legitimationsdefizit der Macht entpuppt sich mithin als vielleicht größtes Problem bei einer wirksamen Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, weil es diesem immer wieder neue Nahrung gibt. Es läßt sich kurzfristig nicht beheben, auf mittlere Frist nur, wenn es zu einem Dialog auch mit jenen gesellschaftlichen Kräften kommt, deren politischer Arm 1992 um den Wahlsieg betrogen wurde, und wenn sich andererseits in der Armee eine neue Generation durchsetzt, die bereit ist, den Staat nicht mehr als ihr Eigentum zu betrachten. Thomas Schmid