Frauenschicksale im australischen Outback

Bambussounds und Bildschirmminen: Zeitgenössische Kunst ist eine Frage der Gewöhnung. Das gilt außerhalb der documenta auch für Kassel. Als neuer Leiter des Museum Fridericianum präsentiert René Block neun Künstlerinnen aus dem nichtwestlichen Kulturraum  ■ Von Elke Buhr

Ein paar Plakate von der documenta X hängen noch. Die „Volksboutique“-Künstlerin Christine Hill hat ein trostlos leeres Ladenlokal hinterlassen. Einziges lebendes Wesen in der schäbigen Unterführung vom Kasseler Hauptbahnhof zur Fußgängerzone ist der singende Sockenverkäufer, der documenta-Chefin Catherine David so auf die Nerven ging.

Catherine Davids Büro im Turm des Museum Fridericianum ist auch noch da, mitsamt Aktenschränken, Schreibtischen und Computern. Die Künstlerin Ayse Erkmen hat nur das Programm der Bildschirmschoner geändert. Es zeigt jetzt klobige Landminen auf grünem Grund. Die Installation gehört zu René Blocks Antrittsausstellung als künstlerischer Leiter des Museum Fridericianum in Kassel. „Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie“ ist der Titel der Schau: Sie präsentiert neun Künstlerinnen, die außerhalb des westlichen Kulturkreises geboren sind; im Iran, Libanon, in Ägypten, Australien, Korea, China und der Türkei.

Außer Tracey Moffatt aus Australien sind alle zur Ausstellungseröffnung nach Kassel gekommen. Und so kann Block sein Konzept für das Fridericianum inmitten einer Phalanx dunkelhaariger Frauen erläutern. Er will für die documenta/Museum Fridericianum GmbH ein Programm machen, das Kassel auch zwischen den documentas aus seiner inzwischen legendären Provinzialität reißen soll: Wofür hat man schließlich die ICE-Verbindung nach Berlin, Hamburg und München?

Auch in Kassel will man, so documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld, nicht alle fünf Jahre wieder bei null anfangen müssen. Der heikle Prozeß der Gewöhnung an zeitgenössische Kunst erfordert kontinuierliches Training. Nach heftigen Auseinandersetzungen, die die rot-grüne Koalition im Kasseler Stadtrat nur knapp überlebt hat, ist jetzt auch der nötige Etat im Sparhaushalt für 1998 vorgesehen; nächstes Jahr wird man sich neu streiten müssen.

Leicht möchte es René Block dem heimischen Publikum nicht machen. Das Fridericianum soll „Zentrum der Peripherie“ werden: als Korrektiv zu zehn documentas, die von Männern dominiert waren, und von denen erst die letzte anfing, nichtwestliche Kunst programmatisch miteinzubeziehen. Der frühere Berliner Fluxus-Galerist Block hat sich schon als Kurator von Ausstellungen wie „Leiblicher Logos“ oder bei der Istanbul- Biennale 1995 als grenzüberschreitender Frauenförderer etabliert. In Kassel will er Außenseiter des Kunstbetriebes präsentieren; außerdem Kunst aus Gebieten wie Neuseeland und Korea. „Man könnte meinen, Tracey Moffatt aus Australien paßt nicht ganz zu den ,Echolot‘-Künstlerinnen“, sagt er. „Aber sie ist Kind einer Aborigine-Familie!“ Das hört sich an, als habe Trendscout René Block die Korrektheit gepachtet.

Wenn er sich vor lauter Paradigmenwechsel-Euphorie in einem Interview selbst bezichtigt, immer schon Teil der Peripherie gewesen zu sein, wünscht man, er nähme den Mund nicht so voll. Andererseits: Eine Schau wie „Echolot“ bekommt man in Deutschland sonst so leicht nicht zu sehen: Was nach Quote riecht, schließt Qualität nicht aus. In Istanbul, so sagt Block, hat er festgestellt, daß es vor allem die Frauen waren, die radikale, avantgardistische Kunst machen.

Eine Beobachtung, die die Iranerin Shirin Neshat bestätigen würde. Ihre Videoinstallation „Turbulent“ zeigt einen Sänger, der ein im Iran sehr beliebtes traditionelles Lied vorträgt. Das Publikum ist begeistert, der Mann sich seiner Gesten sicher. Ihm gegenüber ist eine Frau im schwarzen Tschador in einem leeren Theater zu sehen. Erst als der Mann schweigt, beginnt sie zu singen: tiefes Raunen, dann hohes Flattern, das den traditionellen Viertelton- Gesang weiterentwickelt.

Diese Frau ist eine bekannte Künstlerin, die im Exil lebt. Die Isolation war für sie der Weg zur Avantgarde. Ihr Blick auf die Situation im Iran sei soziologisch, von analytischer Neugier geprägt, erklärt Shirin Neshat. Das klingt sehr viel sachlicher, als ihre großformatigen, sorgfältig inszenierten und extrem ästhetischen Fotos wirken. Auf einem blickt eine Frau im Tschador frontal in die Kamera, in der Hand eine Blume – und ein Gewehr. Auf einem anderen zarte Fußsohlen, über und über mit Schriftzeichen bemalt – zwischen ihnen ragt phallisch ein Pistolenlauf hervor. Die Schriftzeichen, mit denen Shirin Neshat ihre Fotos übermalt, sind Texte iranischer Dichterinnen: gleichermaßen Ornament und Kommentar.

Auch die Ägypterin Ghada Amer beschäftigt sich mit Frauenbildern. Sie stichelt ihre Klischees von Weiblichkeit mit Nadel und Faden auf die Leinwand. Und damit keiner sagt, problematische Rollenkonventionen gebe es nur in islamischen Ländern, nimmt sie amerikanische Blondinen. Die Vorlagen für ihre seriellen Fadenbilder findet sie in Werbebroschüren und Pornoheften.

Eine der Künstlerinnen, die im Moment am eindrucksvollsten mit fotografisch inszenierten Genreszenen arbeitet, ist Tracey Moffatt. Ihr „Something More“ zeigt eine trashige Sequenz von Film-Stills eines tragischen Frauenschicksals im australischen Outback, die die Brüchigkeit der Inszenierung geradezu herausschreit. In der neuen Fotoserie „Up in the Sky“ verfolgt man Stories von Nonnen, Kindern mit dunklen Locken und dauergewellten Blondinen in Wellblechhütten und verliert sich in der kargen Atmosphäre der bräunlichen, geisterhaft unscharfen Fotos. Überhaupt gibt es viele Fotos zu sehen, Videos, Installationen und Objekte; kein einziges Gemälde. Dafür wunderschön meditativ klingende Bambusrohre von Qin Yufen und bunte Stoffbündel der koreanischen Kunstnomadin Soo Ja Kim.

„9 Fragen an die Peripherie“ ist der Untertitel der Ausstellung. Wo aber kommen die Antworten wirklich her? Fast alle Künstlerinnen leben in New York, London, Berlin. Für Shirin Neshat ist völlig klar, daß sie alle auf der Grundlage eines westlichen Kunstverständnisses arbeiten; wenn etwas „anders“ ist, dann höchstens Themen, Inhalte. Man sei „kompatibel“ zu Künstlern aus Europa oder Nordamerika, sagt sie. Und gebraucht damit das richtige Stichwort. Paradigmenwechsel? Endlich den Eurozentrismus loswerden? Eigentlich nicht. Wie denn auch. Deshalb können ich und du und René Block ja auch soviel damit anfangen.

Und die Frauenfrage? Gülsün Karamustafa stöhnt. Für ihre Arbeit „presentation of an early representation“ hat sie ein altes Aquarell deutscher Herkunft riesenhaft vergrößert: Ottomanische Händler betatschen europäische Frauen auf dem Sklavenmarkt. An die Seite hat sie alle Fragen geschrieben, die sie als türkische Künstlerin bei Ausstellungen in Deutschland ständig beantworten muß: vom Kurdenkonflikt bis zur Emanzipation der Frau.

„In Istanbul fragt mich keiner danach, wie ich denn als Frau zurechtkomme, da arbeite ich einfach“, sagt sie. „Ich denke, in absehbarer Zeit wird das durchdiskutiert sein. Und wir können uns endlich mit anderen Dingen beschäftigen.“

„Echolot oder 9 Fragen an die Peripherie“. Bis 7. Juni im Museum Fridericianum, Kassel