Die Eiskappe auf der Seele

Wie viele Flaschen braucht ein Buch? Mit isländischer Literatur läßt sich der Zusammenhang zwischen Trinken und Schreiben erkunden. Vielleicht ist das der Grund, daß „die Isländer kommen“. In Reykjavik hat sich viel verändert – auch die Literatur der Stadt  ■ Von Peter Urban-Halle

Die Inselrepubliken von Irland und Island sind nicht nur lautmäßig miteinander verwandt. Es gibt da auch sentimentale Parallelen. Beide leben von ihren Mythen und verlangen eingefleischte Fans, die aus Prinzip Guinness trinken oder Island-Pullover tragen und schräge Originale lieben. Aber Irland besitzt noch so was wie Lieblichkeit. Sanfte, grüne Hügel zum Beispiel und eine ästhetisch akzeptable Hauptstadt. In Sachen Kraßheit dagegen läuft ihm Island locker den Rang ab. In Island ist alles so kraß, daß man sich geistig darauf vorbereiten muß. Sonst verläßt man die Insel nach ein paar Tagen, weil man keine Lust mehr hat, ständig in Mondlandschaften herumzulaufen und als Hauptstadt einen Haufen von Holzhäusern erdulden zu müssen.

So war es zumindest vor zwanzig Jahren. Inzwischen hat sich einiges geändert. Aus dem Häuserhaufen Reykjavik ist eine Stadt geworden, sogar „the coolest place in the world“, wie der Guardian schrieb. Das ist der Freigabe des Bierausschanks vor knapp zehn Jahren zu verdanken. Vorher machten Kaschemmen wie das „Gaukur á Stöng“ das Rennen, dessen Interieur den Berliner Isländer-Treffpunkt „Witwe Bolte“ imitierte und so perverse Flüssigkeiten wie alkoholfreies Bier mit viel Whisky ausschenkte. Mittlerweile gibt es zwischen der Hauptgeschäftsstraße Laugavegur und dem Zentrum so viele Kneipen, Cafés und Bars wie anderswo auch, und alle haben ihr Publikum; die Lyrikerin Linda Vilhjálmsdóttir treffen wir im Café List, mit dem Kritikerverbandsvorsitzenden verabredet man sich im Café Sólon Islandus, die jungen Künstler lassen sich in Kaffibarinn blicken, aber am spannendsten war es nachts um zwei in Nelly's Café, als eine verstört-genialische Dichterin namens Elisabet Jökulsdóttir in Begleitung eines dänischen Königssohns ihre Schriften vortrug und sie dann in Flammen aufgehen ließ.

Daß Trinken und Schreiben zusammengehören, hat Verleger Michael Krüger vor Jahren schon einmal sachkundig dargelegt („Wieviel Flaschen braucht ein Buch?“). In Reykjaviks aufregendster Woche, zwischen dem 17. Juni, Unabhängigkeitstag, und dem 21. Juni, Sommersonnenwende, wird das Schreiben allerdings eher vernachlässigt. Da wird nur gesoffen, da geht die Sonne nicht unter und der Trinker nicht ins Bett. Dieses Volksbesäufnis hat etwas von einem Jungbrunnen. An diesen Feiertagen sterben die Isländer, um am nächsten Tag neu geboren zu werden, auch wenn die Masse berauschter Kinder leicht erschütternd wirkt. Und Kinder gibt's viele. Und junge Eltern. Kinderspiel! Die Großeltern wohnen um die Ecke, und der Kindergarten kostet 1,20 DM pro Tag. Schade allerdings, daß zum Bedauern der Bevölkerung Ende März das Goethe-Institut in Reykjavik geschlossen wurde.

Auch Islands Literatur hat sich geändert. Bislang hatte sie auf dem Land zu spielen, und sie hatte von Halldór Laxness zu stammen. Stadtromane, die schon vor zehn Jahren auf deutsch erschienen, wie Einar Már Gudmundssons „Die Ritter der runden Treppe“ oder der bizarre Roman von Gudbergur Bergsson, „Das Herz lebt noch in seiner Höhle“, wurden kaum bemerkt. Doch mit Einar Kárasons „Teufelsinsel“ und Steinunn Sigurdadóttirs „Zeitdieb“, auch zwei Stadtromane, ging's los.

In diesem Frühling erscheinen gleich drei Island-Titel im Hanser Verlag (bzw. bei Zsolnay, der Hanser gehört), und die beiden neuen Romane von Kárason und Gudmundsson spielen wieder in Reykjavik. Dazu gibt's ein Hanser-Begleitheft mit dem Titel „Die Isländer kommen“. Das klingt keß, da eine ähnliche Kampagne vor vielen Jahren („Die Schweden kommen“) eher ein Flop war. Doch nun scheinen wir tatsächlich am Anfang einer Art Welle zu stehen, der Peter-Høeg- und Jostein- Gaarder-Effekt läßt die Verleger auch an den Rändern suchen. Wahrscheinlich „kommen“ demnächst auch die Finnen. Warum wir auf einmal soviel aus dem Norden lesen, wird im Hanser-Heftchen nicht erklärt. Das Interesse für den Norden gibt es ja nun seit zehn Jahren, aber erst seit dem Fräuleinwunder von Smilla und Sophie ist daraus ein Boom geworden. Das hat objektive Gründe – spannende Story, tolle Idee, populistische Wissensvermittlung –, ist aber auch eine Mode, und Moden werden gemacht und vergehen wieder. Wir deutschen Leser suchen nicht mehr wie bei dem ersten Boom vor hundert Jahren das irgendwie „Nordische“, den Ursprung also, sondern das gründlich Extreme, klirrend Exotische: Erstaunlich, wie ähnlich Sandwüste und Eiskappe auf unsere Seelen wirken und wie sehr wir uns an griechische Olivenhaine erinnert fühlen, wenn man in Islands lichtflimmerndem Birkenwald steht, der an dem langgestreckten See im Osten, dem Lagarfljot, wächst.

Westlich des Lagarfljots spielt die kurze Saga von Hrafnkel dem Freysgoden (einer Art Fürst), über die der 71jährige Däne Poul Vad ein ganz und gar nicht populistisches, eher elitäres Buch verfaßt hat; da kann mir jeder Roman gestohlen bleiben. Natürlich ist es ein Reisebericht, den er aber mit Literatur- und Mentalitätsbetrachtung durchmischt, und zwar belesen, graziös und human. Das Buch hat eine geradezu betörende Wirkung auf uns, wie jener „Bauer auf dem Skaftafell“ auf den Autor selbst: Bei ihrer Begegnung schien es Vad, „als sollte ich jetzt erst damit anfangen, mich im Dasein zu orientieren, und als würde ich mir jetzt erst meines eigenen Vorhandenseins vollauf bewußt“.

Vad reist auf den Spuren dieser seltsamen Saga mit ihren „unlösbaren moralischen Dilemmata“. Er besucht den noch heute existierenden Adalbol, der vor tausend Jahren Hrafnkels Hof gewesen war. Er findet auf seiner Islandfahrt seine Weisen, seine Heiligen, seine Gurus, die er faszinierend und bedrohlich beschreibt, ohne sie deswegen zu mystifizieren. Dazu ist er ohnehin nicht nach Island gekommen, obwohl seine Beschreibungen seltsamer Bräuche und Charaktere das Bild der isländischen Kauzigkeit vertiefen. Am grellsten ist vielleicht jener Pfarrer gemalt, der dem Autor nach einer Nacht in Gesellschaft des „Schwarzen Todes“, des Nationalschnapses, gesteht, eigentlich Muslim zu sein. Ob es dies war oder die respektlos-achtungsvolle (wenn das geht) Trinkerszene beim Präsidenten, was die Übersetzung von Vads Buch ins Isländische bislang verhindert hat, weiß ich nicht. Einflußreiche Leute wehren sich dagegen. Die Isländer sind „realistische Phantasten“, wie Vad anerkennt, aber Humor ist wohl nicht ihre Stärke.

Im Vergleich mit Vads „Islandreise“ ist das „Isländische Tagebuch“ des finnischen Schriftstellers Antti Tuuri facettenreicher, trotzdem trifft Vad die isländischen Eigenheiten besser. Und Tuuris Problem ist, daß er zwar die „Urverrücktheit“ der Isländer beschwört, sein Tagebuch aber bis auf einige Skurrilitäten etwas fade ist.

Wenn von Originalen und Käuzen gesprochen wird, ist der Schritt zu den Irren nicht weit. Freilich taugen sie selten zur Akquisition von Fans. Einar Már Gudmundssons „Engel des Universums“ entmystifiziert doppelt: Erstens zeigt er, daß die isländische Gesellschaft genauso außenseiterfeindlich ist wie jede andere auch (auf isländisches Begehren durften auf dem umstrittenen US-Stützpunkt in Keflavik keine Schwarzen stationiert werden), und zweitens macht er seinen Helden, den allmählich schizophren werdenden Páll, nicht besser, als er ist. Die Welt ist eben komplizierter als das, was man anfassen kann. Gudmundsson schreibt über den Wahnsinn als extistentielles Problem, und das tut er raffiniert. Das Buch ist nämlich eine Ich-Erzählung, und anfangs wundert man sich, wie klar und sauber der Schizo Páll seine Lage analysiert, denn es gibt eine Menge Kommentare und Reflexionen, die in die anekdotenreiche Handlung einfließen. Bis einem dann dämmert, daß so nur ein Toter sprechen kann. Páll hat sich das Leben genommen, der Tod ist sein Heilmittel, er hält es nämlich nicht mehr aus: weder wie die Welt mit ihm umspringt noch was er der Welt antut.

Reykjavik wird bei Gudmundsson als „merkwürdig“ bezeichnet, in Kárasons „Teufelsinsel“ als „trübsinnig“. Das ist kein Wunder, spielt letztere doch in einem verkommenen Barackenviertel, wo man sich seine Schönheiten in anderer Form herzaubern muß. Aber Reykjavik ist allgemein keine schöne Stadt, dazu ist es zu jung und zu hingewürfelt. „Wenn die Isländer mit Architektur konfrontiert wurden, waren sie eher dagegen“, schreibt Poul Vad. Ein wenig sieht es heute noch so aus. Es gibt Perlen wie Aavo Altos „Nordisches Haus“, doch von Struktur keine Spur. Auch im neuen Kárason „Törichter Männer Rat“ ist das so. Wieder ist es eine Familiengeschichte, auch der sozialen Schmuddelszene ist er treu geblieben. Diesmal wachsen sieben Kids auf dem Schrottplatz ihres Papas auf. Im Buch ist der Stammbaum abgedruckt, das garantiert den Überblick.

Kárason zeigt vielleicht am besten, wie die junge Autorengeneration die alten Überlieferungen, die jeder Isländer mit sich schleppt, für die Moderne retten kann. Tatsächlich schreibt er Sagas, „Berichte“, nur nicht ganz so blutig und etwas witziger, cooler, als sie vor siebenhundert Jahren waren. Immerhin kennen wir mittlerweile den Rock 'n' Roll. Wer irische Bücher mag, findet auch Kárason gut, da sind wir wieder bei der Verwandtschaft. Selbst Gudmundsson ist nicht davor gefeit, ansatzweise ein plebejisch-kerniges Personal aufmarschieren zu lassen, lauter waschechte Originale eben. Aber bei Kárason sind sie schlicht eine Conditio sine qua non, die trinkfesten Haudegen, die lebenslustigen Mädels, die cleveren Kerle: er kommt dem Populismus Høegscher Prägung noch am nächsten.

Die Eigenbrötler werden uns in isländischen Büchern noch lange begegnen. Die Fans fordern sie, und wenn sie zur Wirklichkeit gehören, kann man sie nur schlecht vermeiden. Um die Wirklichkeit geht es immer: Es kommt darauf an, so sagt Gudmundsson, was wir daraus machen und wie wir sie in unserem Kopf, der ein schizophrener ist oder nicht, gestalten.

Einar Már Gudmundsson: „Engel des Universums“. Deutsch von Angelika Gundlach. Hanser, München 1998, 196 S., 36 DM.

Einar Kárason: „Törichter Männer Rat“. Roman. Deutsch von Maria-Claudia Tomany. Zsolnay, Wien 1998, 320 S., 39,80 DM.

Antti Tuuri: „Großes kleines Land“. Deutsch von Andreas Ludden. Pettersson Verlag, Münster 1998, 193 S., 32 DM.

Poul Vad: „Islandreise. Auf den Spuren einer Saga“. Deutsch von Hanns Grössel. Hanser, München 1998, 181 S., 32 DM.