Das Geheimnis heißt Respekt

American Pie: Die Seattle SuperSonics wollen mit neugefundener Harmonie und einem gereiften Gary Payton endlich ihre erste NBA-Meisterschaft seit 1979 gewinnen  ■ Von Matti Lieske

With the jester on the sidelines in a cast

Die Lobeshymnen klingen begeisterter denn je. „Das war ein großer Sieg gegen das beste Team der Liga“, sagte Coach Danny Ainge, nachdem seine Phoenix Suns am Montag mit einer Glanzleistung bei den Seattle SuperSonics 102:92 gewonnen hatten. „Wenn es ein Team in dieser Liga gibt, das den Ball besser wirft, habe ich es jedenfalls das ganze Jahr über nicht gesehen“, schwärmte Brian Hill, der Trainer der Vancouver Grizzlies, nachdem sein Team von den Sonics mit 98:132 abgefertigt worden war. Mögen die Chicago Bulls auch nach wie vor die beste Saisonbilanz der NBA haben, die Mannschaft der Stunde sind zwei Wochen vor Beginn der Playoffs die Seattle SuperSonics.

Das ist nichts Neues für das Team aus dem Staate Washington. Seit George Karl vor sechs Jahren sein Traineramt in Seattle angetreten hat, gewann die Mannschaft 70 Prozent ihrer Spiele und ist das zweitbeste Team der NBA nach den Bulls. Mit beiden Händen hatte der heute 46jährige Coach 1992 das gepackt, was nach Rauswürfen in Cleveland, bei Golden State und sogar Real Madrid als seine letzte Chance galt. Unter Karls Regie entwickelten die Sonics eine Spielweise, die auf aggressiver Defense, Schnelligkeit und sicheren Distanzwürfen von Schrempf, Hawkins und Perkins beruht – attraktiver, aber kontrollierter Basketball, der in der heimischen Key Arena beständig für ein volles Haus sorgt. Dennoch liegt ein Schatten über der Karl- Ära in Seattle. Großartigen Leistungen in der Saison folgte meist jämmerliches Scheitern in den Playoffs. Lediglich 1996 wurde das Finale gegen Chicago erreicht, wo Schrempf und seine Kollegen in den ersten Spielen aber weit unter ihren Möglichkeiten blieben. Die Aufholjagd kam zu spät, den Titel holten die Bulls.

In diesem Jahr soll das anders werden, und es gibt durchaus Grund zum Optimismus. Das in der Vergangenheit häufig vom Egoismus einzelner Stars zerrissene Team scheint sich zu einer harmonischen Einheit gewandelt zu haben, was laut George Karl vor allem auf einer Sache beruht: Respekt. Diesen definiert der Coach folgendermaßen: „Die Fähigkeit, gemeinsam zu kämpfen, sich zu streiten und Ideen auszutauschen, dabei aber immer zusammenzustehen.“ Früher waren es besonders Shawn Kemp und Gary Payton, die aus diesem Schema gern ausbrachen. Kemp wurde nach Cleveland geschickt und durch den ebenso fügsamen wie effektiven Rackerer Vin Baker ersetzt, Payton, mit dem der Trainer einst manch heftigen Zwist austrug, spielt seine besten Saison als Point Guard, seit ihm Karl die unangefochtene Chefrolle übertragen hat.

„Er hat mir die Freiheit gegeben, zu tun, was ich will“, sagt Payton, „und dafür respektiere ich ihn, und dafür arbeite ich für ihn.“ Der Trainer müsse die Mannschaft bloß vorbereiten, erklärt der MVP-verdächtige Spielmacher, „ich erledige die Sache dann für ihn“. Karl läßt sich seinerseits nicht lumpen und verkündet, daß ihn Payton „eine Menge über Coaching in den 90ern“ gelehrt habe. Ähnlich wie Phil Jackson in Chicago setzt der Trainer der Sonics auf Kooperation und Verantwortlichkeit der Spieler, ein Stil, der in der NBA zuletzt deutlich erfolgreicher war als die autoritäre Vorgehensweise etwa eines Pat Riley in Miami oder P.J. Carlesimo in Portland und Golden State.

Um seine weitere Karrriere braucht sich George Karl jedenfalls keine Sorgen zu machen, ob sich diese allerdings, wie von ihm gewünscht, in Seattle fortsetzt, ist offen. Sein Vertrag läuft aus, bisher hat ihm Generalmanager Wally Walker kein neues Angebot unterbreitet. „Ich hatte früher nie das Gefühl, daß mich viele Leute mögen“, sagt Karl, „jetzt mögen mich eine Menge Leute.“ Ob einige davon in der Chefetage der Seattle SuperSonics sitzen, dürfte in erster Linie vom Abschneiden in den Playoffs abhängen, wo die vielgepriesene Harmonie mit Fastbreak- Geschwindigkeit zusammenkrachen könnte.