Streit um Sektenkult

Religiöse Auseinandersetzungen im tibetischen Exil kratzen am toleranten Image des Dalai Lama  ■ Aus Dharamsala Klemens Ludwig

Früh am Morgen sind in den engen Gassen von McLeod, dem von Tibetern geprägten Ortsteil der tibetischen Exilhauptstadt Dharamsala im Nordwesten Indiens, die Geschäfte noch mit Bretterverschlägen verriegelt. Jedoch formt sich bereits ein wachsender Pilgerzug in Richtung des zentralen Tempels. Kurz vor dem Eingang kommt der Zug zum Stehen. Sicherheitskräfte lassen niemanden unkontrolliert vorbei. Wer zu den Belehrungen des Dalai Lama, des tibetischen Oberhaupts, will, muß sich erst einer Leibesvisitation unterziehen. Dies sind keine Schikanen indischer Behörden oder der tibetischen Exilverwaltung, sondern Reaktionen auf eine Entwicklung, die in Dharamsala niemand für möglich hielt. Vor 14 Monaten hat das Refugium der Tibeter seine Unschuld verloren.

Am 4. Februar 1997 wurden der Leiter des Instituts für Dialektik, Lobsang Gyatso, und zwei seiner Studenten brutal ermordet. Es war ein Schock, daß der für seine Friedfertigkeit und Toleranz bekannte tibetische Buddhismus ein solches Verbrechen zuläßt. Hintergrund ist ein religiöser Streit, der längst politisch instrumentalisiert wird. Im Zentrum steht der Schutzgeist Dorje Shugden, der in der tibetischen Tradition eine wichtige Rolle spielt. Obwohl Buddha die Frage nach einem Schöpfergott nie gestellt hat, bemächtigte sich die Volksreligion persönlicher Schutzheiliger und Geister, die angerufen werden können. Dorje Shugden ist einer der mächtigsten darunter. Der Dalai Lama indes betrachtet dessen Macht als gefährlich. Der ermordete Lobsang Gyatso war ein großer Kritiker dieses Kults.

Der Dalai Lama sieht vor allem zwei Gefahren: Die tibetisch- buddhistische Tradition verkomme durch den Shugden-Kult zu einer Geisterverehrung. Die Gläubigen orientierten sich nicht am Weg Buddhas, der die Menschen in ihre eigene Verantwortung nehme, um zur Erleuchtung zu gelangen. Sie suchten ihr Heil statt dessen in der äußeren Anbetung eines Schutzgeistes. Zudem fördere die Shugden-Verehrung das Sektierertum. Dieser Schutzgeist entspringt der Gelugpa-Tradition, einer von vier Schulen des tibetischen Buddhismus, deren Oberhaupt der Dalai Lama ist.

Gerade der Dalai Lama bemüht sich, die Gemeinsamkeiten zwischen den Schulen hervorzuheben. Die Shugden-Anhänger grenzen sich dagegen von den anderen ab. Dem Dalai Lama werfen sie vor, die Religionsfreiheit zu unterdrücken. Shugden-Anhänger würden ihre Jobs verlieren und aus den Gemeinden verdrängt, ihre Kinder von den Schulen verwiesen. Auch westliche Medien, wie im November das NDR-Fernsehmagazin „Panorama“ und im Januar das Schweizer Fernsehen, machen sich solche Vorwürfe zu eigen.

In Lower Dharamsala reagiert ein Schulleiter auf die Frage, ob Kinder wegen des Streits um Shugden von seiner Schule verwiesen wurden, bereits leicht genervt: „Seit der unseligen Auseinandersetzung um die Schutzgottheit Dorje Shugden fragen Ausländer immer wieder danach. Glauben Sie mir, niemand ist von der Schule verwiesen worden. Fragen Sie, wen Sie wollen. Niemand wird Ihnen einen Fall nennen können, daß ein Klassenkamerad abgewiesen wurde – hier nicht und in keiner anderen Schule.“ Nicht nur Funktionäre reden so. In Dharamsala ist von einer Kontroverse nichts zu spüren. Vielmehr herrscht die Meinung vor, die der Restaurantangestellte Wangpo auf den Punkt bringt: „Zunächst war es für uns nicht einfach, uns eine Meinung in dieser religiösen Frage zu bilden, doch spätestents seit dem dreifachen Mord wissen wir, daß der Dalai Lama Recht hat mit seiner Warnung vor der Shugden-Verehrung. Seitdem will hier niemand mehr etwas damit zu tun haben.“ Wangpo ist Sympathisant des Jugendkongresses, der kritischsten Stimme in der Exilgemeinde. In der Shugden- Frage steht jedoch auch der Jugendkongreß hinter dem Dalai Lama und der Exil-Regierung.

Der Dalai Lama hat die Shugden-Anhänger nur aufgefordert, nicht mehr zu seinen Segnungen und Belehrungen zu kommen. Ansonsten erklärt er voller Emotionalität, die ihm sonst fremd ist: „Ich lade jeden ein, der meinen Erklärungen nicht glaubt, hierher zu kommen, sich frei zu bewegen und selbst zu erkunden, wie berechtigt die Vorwürfe sind, ich würde die Religionsfreiheit unterdrücken. Wir haben nichts zu verbergen.“

Was ist mit dem Vorwurf, die tibetische Exilverfassung sei geändert worden, um Shugden-Anhänger aus allen Ämtern zu entfernen? Der Dalai Lama: „Da muß es sich um ein Mißverständnis handeln. Ein Abgeordneter hat diesen Vorschlag eingebracht, aber er wurde mit klarer Mehrheit abgelehnt. Wir haben keinen Grund, die Kontroverse anzuheizen.“

Die Menschen in Dharamsala wirken nicht, als würden sie unter dem Diktat des Dalai Lama stehen und sich nicht trauen, kontroverse Meinungen zu vertreten. Vielmehr haben die Morde der Shugden-Bewegung die letzten Sympathien geraubt. Die indische Polizei hat die Morde inzwischen aufgeklärt. Vier der sechs mutmaßlichen Mörder sind identifiziert. Es handelt sich um tibetische Shugden-Anhänger, die in engem Kontakt mit dem Hauptquartier in Delhi standen, der „Dorje Shugden Devotees Charitable and Religious Society“. Ihrer Verhaftung haben sie sich durch Flucht nach Tibet entzogen, wo sie unter chinesischem Schutz stehen. Im November hat die indische Polizei Interpol eingeschaltet, um die Auslieferung zu erlangen. Doch viel Hoffnung macht sich I. S. Bhandari, der Leiter der Untersuchungen nicht.

Die Shugden-Führung weist eine Beteiligung an den Morden zurück. Ihr Oberhaupt Geshe Kelsang erklärte im britischen Exil: „Der Dalai Lama hat sich inzwischen viele Feinde gemacht. Deshalb kommen für den Mord viele in Betracht. Es gibt keinen Grund, uns die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.“