Schlagabtausch zwischen Moskau und Riga

Nach dem Anschlag auf die russische Botschaft in Lettlands Hauptstadt haben sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter verschlechtert. Jelzin droht dem Nachbarn mit wirtschaftlichen Maßnahmen  ■ Von Gabriele Lesser

Warschau (taz) – Die Bombe lag in einem Papierkorb vor der russischen Botschaft in Riga. Am Montag gegen ein Uhr nachts riß sie alles in Stücke, was sich in einem Umkreis von zwei bis drei Metern befand. Wenige Tage zuvor war in der einzigen noch benutzten Synagoge Rigas ebenfalls eine Bombe explodiert. Sie hatte die schwere Eichentür zerstört und sämtliche Fenster aus den Rahmen gesprengt. In beiden Fällen kamen keine Menschen zu Schaden. Doch die Angst der Minderheiten in Lettland nimmt zu. Seit Anfang des Jahres häufen sich antirussische und antisemitische Vorfälle.

Die Beziehungen zum Nachbar Rußland sind auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Die gegenseitigen Vorwürfe haben eine Schärfe angenommen, die das Schlimmste befürchten lassen. Als die lettische Polizei Mitte März eine Demonstration von 1.000 russischen Rentnern auflöste und dabei auch mit Schlagstöcken gegen die alten Leute vorging, warf Rußland dem Nachbarstaat „einen eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte“ vor. Lettland verteidigte sich, die Demonstration sei nicht angemeldet gewesen. Der Verkehr in der Hauptstadt sei zum Erliegen gekommen. Die Reaktion Rußlands sei eine „deutliche Überreaktion“.

Wenige Tage später marschiert eine gespenstisch anmutende Truppe durch die Hauptstadt Lettland: 500 Veteranen der lettischen Waffen-SS. Die Veteranen feiern mit der Parade die von Hitler persönlich unterstützte Gründung der Lettischen Legion vor 55 Jahren.

Während des Zweiten Weltkriegs hatten rund 80.000 Letten in Waffen-SS-Einheiten gekämpft, weitere 30.000 als Polizisten – gegen den früheren sowjetischen Besatzer und für die Unabhängigkeit Lettlands, wie es offiziell immer wieder heißt. Allerdings: lettische SS-Kommandos haben auch Juden ermordet. Allein das berüchtigten „Arajs Kommando“ hat 30.000 lettische Juden getötet.

Als Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow von der Parade erfährt, gehen ihm die Nerven durch. Die lettische Regierung verfolge eine Politik, die einem Völkermord gleichkomme. In Lettland herrschten Verhältnisse wie in Kambodscha unter Pol Pot. Die Russen würden wie Sklaven behandelt. Er kenne kein Land, in dem die Menschenrechte so offen mißachtet würden wie in Lettland.

Die Antwort aus Riga ließ nicht lange auf sich warten. Die beiden Bombenanschläge auf die Synagoge und die russische Botschaft in Lettland seien eine Provokation Rußlands mit dem Ziel, das Land in Westeuropa und Amerika zu diskreditieren. Eine Sondereinheit aus 2.000 lettischen und amerikanischen Polizisten und Sprengstoffexperten habe festgestellt, daß beide Bomben aus Rußland stammten und offensichtlich von derselben Person gezündet worden seien. Rußland hat inzwischen die Drohung, Wirtschaftssanktionen gegen Lettland zu verhängen, zurückgenommen. Allerdings forderte der russische Präsident Boris Jelzin gestern nicht näher bezeichnete „Wirtschaftsmaßnahmen“ gegen den Nachbarn, sollte die Diskriminierung der Russen durch die lettische Regierung andauern.

Hintergrund der Spannungen ist das Minderheitenproblem in Lettland. Unter Stalin wurden zahlreiche Letten ins Innere der Sowjetunion deportiert, andererseits Zehntausende von Sowjetbürgern nach Lettland umgesiedelt, die früher unabhängige Republik russifiziert. Heute stellen die Letten rund 57 Prozent der rund 2,5 Millionen Einwohner. Mit über 40 Prozent Russen, Weißrussen und Ukrainern liegt der Anteil der Minderheiten im Vergleich mit den anderen baltischen Staaten am höchsten.

Als Lettland seine Unabhängigkeit wiedergewann, gestand es allen Bewohnern die Staatsbürgerschaft zu, die sie vor 1940 besaßen. Später eingewanderte Russen oder Weißrussen müssen eine langwierige Einbürgerungsprozedur durchlaufen und einen Sprachtest bestehen. Die meisten Zugewanderten aber sprechen bis heute kein Lettisch. Weniger als die Hälfte von ihnen besitzt die lettische Staatsbürgerschaft. Am 31. März haben die sowjetischen Identitätskarten ihre Gültigkeit verloren, so daß sich Hunderttausende von Russen, Weißrussen und Ukrainern in Lettland zur Zeit nicht einmal ausweisen können. Immerhin scheint die Regierung in Riga auf Trab gekommen zu sein. Einige hohe Militärs und Staatsbeamte mußten ihren Hut nehmen. Auch über Patriotismus und Kollaboration mit den Nazis wird diskutiert. Nur ein Lösung des Minderheitenproblems scheint noch nicht in Sicht.