Tomatenweitwurf und andere Übungen

Mit den jungen Lehrerinnen aus der Stadt hielt die Revolution in den Dörfern Einzug: Mädchen lernten, daß es nicht nur Vater-Mutter-Kind-Spiele gibt. Jungen wurde eingebleut, daß zum gemeinsamen Spaß immer zwei gehören. Erst der Aufklärungsenthusiasmus der 68er machte die Emanzipation unumkehrbar. Ein kleines Dankeschön  ■ von Klaudia Brunst

In meinem Familienalbum gibt es eine Aufnahme: Hand in Hand gehen meine Schwester und ich die Straße entlang. Wir blinzeln etwas ungelenk in die Kamera, hinter der mit Sicherheit meine Mutter gestanden hat. Sie muß stolz gewesen sein auf ihre zwei Töchter in den farbenfrohen, selbstgeschneiderten Dirndln. Meine Schwester ist acht, ich bin vier. „Ostern 1968“ steht unter dem Foto.

Ich bin kein 68er-Kind. Als in Berlin die Studentenbewegung die Verhältnisse zum Tanzen brachte, zahlten meine Eltern am Niederrhein ihren sozialen Aufstieg ab. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, das Eigenheim stand, gehörte aber praktisch noch der Bank. Wenn das Leben wie geplant weiterginge, würden die Töchter Anfang der Achtziger Abitur machen und die Kredite in weniger als dreißig Jahren getilgt sein. Wer in unserem Neubauviertel wohnte, hatte 1968 andere Träume im Kopf als den Sturm auf den Straßen. Zunächst einmal wünschten sich alle asphaltierte Straßen. Und eine kleine Verschnaufpause.

Trotzdem bin ich ein Kind der 68er. Als ich zum Studium nach Berlin ging, waren es weniger die Hausbesetzungen in Kreuzberg, die mich anzogen (auch wenn ich darüber so manche heiße Debatte mit meinem Vater hatte). Ohne daß ich je genauer darüber nachgedacht hätte, waren es doch vor allem die fernen Ereignisse aus dem Frühjahr 1968, die mich an die Freie Universität Berlin gebracht haben.

In die Provinz dringt der Fortschritt nur langsam vor und meist in kaum nachweisbaren, homöopathischen Potenzen. Gewiß war auch meine Grundschullehrerin weder beim SDS noch sonstwie auf den Barrikaden gewesen. Frau S. war „sehr jung“, wie sich meine Mutter erinnert, als sie 1971 in unser Dorf kam. Es muß ihre erste Stelle nach dem Studium gewesen sein. Sie kam zusammen mit ihrem Mann, der in der Nachbargemeinde die Pfarrei übernommen hatte, und zog ein paar Jahre später wieder zurück in die Stadt.

Frau S. brachte die Revolution. Während wir in der 1. Klasse in Reih und Glied frontal unterrichtet worden waren (und auch schon mal zur Strafe in der Ecke stehen mußten), erklärte uns Frau S. die Idee der Gruppentische. Fortan lernten wir in Sechserformationen. „Abschreiben“ war nun eine Form gegenseitigen Helfens – und das war erwünscht.

Frau S. war immer bunt, gutgelaunt und überraschend wenig erwachsen. Besonders hilfreich waren diese Eigenschaften, als es an den Aufklärungsunterricht ging. (Es gehört zu den Schicksalsschlägen meiner Generation, daß wir im Übereifer der neuen Pädagogik alle zwei Jahre aufs neue aufgeklärt wurden.) In der 2. Klasse machte uns Frau S. mit den Grundlagen der Geschlechter vertraut: Ich werde nie vergessen, wie ich an der Tafel stand und die Fortpflanzungsorgane von Mann und Frau in zwei von Frau S. schemenhaft skizzierte Silhouetten einzeichnen sollte. Bei dem, was meine Lehrerin hinterher mit einem Pfeil als „Glied“ kennzeichnete, war ich ins Schlingern gekommen. Das Gejohle der Jungs beendete meine Lehrerin, indem sie den größten Krakeler nach vorn zitierte. Er solle sich doch bitte schön seinerseits daran versuchen, Gebärmutter, Eierstöcke und Scheide in die zweite Figur einzuzeichnen. Mit erhobenem Haupt konnte ich mich wieder setzen. Mein Mitschüler war kläglich gescheitert. Er hatte noch weniger über meinen Körper gewußt als ich über seinen.

Der möglichst selbstverständliche Umgang mit dem Tabuthema Sexualität wurde die Basis meiner Erziehung zum weiblichen Selbstbewußtsein. Denn mit dem dezidierten Wissen um die Vorgänge des Kindermachens war auch der Gedanke verbunden, daß dazu eben immer zwei gehören. Und daß ich ein unverbrüchliches Recht hatte, ja zu sagen. Oder eben nein. Und alle betonten, daß „es“ Spaß machen würde. Auch wenn die eher komplizierten Schilderungen der sonst so lustigen Frau S. noch nicht unbedingt darauf schließen ließen.

Auch meine Eltern sprangen tapfer über ihren Schatten. Selbst kaum aufgeklärt, unternahmen sie nun alles, um uns von der neuen Freizügigkeit profitieren zu lassen. Auf gar keinen Fall sollten wir verklemmt werden! In unzähligen Gesprächen (meist am Badewannenrand) gab vor allem meine Mutter Antworten, übersetzte, was wir im Unterricht nicht recht verstanden hatten, schmückte aus, was der Lehrerin zu erzählen verboten war. Wo meine Eltern nicht weiterkamen, halfen die Bücher von Oswalt Kolle oder vielleicht auch mal eine fromme Notlüge.

Überhaupt wurde bei uns zu Hause viel geredet. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, daß in jenen frühen Jahren etwa die Frauenfrage je explizit (geschweige denn: kontrovers!) diskutiert worden wäre. Viel weiter als bis zu der Erkenntnis, daß es eigentlich keinen vernünftigen Grund gibt, Frauen im Auto hinten sitzen zu lassen, während der Sohn des Hauses auf dem Beifahrersitz Platz nimmt (wie in der Nachbarschaft immer noch üblich), war es eigentlich nicht gekommen.

Meine Eltern praktizierten gewissermaßen eine „arbeitsteilige Gleichberechtigung“ mit einem noch sehr traditionellen Rollenverständnis: Mein Vater verdiente das Geld, das er mit meiner Mutter, die eigenverantwortlich für Haus und Kinder zuständig war, offen und gerecht teilte.

Aber es drangen peu à peu auch andere Lebensentwürfe zu mir vor. Da waren zum Beispiel die G.s. Sie wohnten im Dachgeschoß der ebenfalls eher „etwas flippigen“ B.s, die wiederum die Nachbarn meines Schulfreundes (zwei Ecken weiter) waren. Herr und Frau G. waren beide berufstätig. Und während der bärtige und langhaarige Herr G. für mein Dafürhalten sehr weiblich war und sogar Hausarbeit verrichtete, mußten wir gelegentlich Rücksicht auf Frau G. nehmen, die noch Arbeit mit nach Hause genommen hatte und wohl lieber aß als kochte.

Das Haus der G.s stand uns immer offen. Die Sitzelemente der ausschweifenden Wohnlandschaft ließen sich herrlich zu komfortablen Hütten zusammenstellen, wir haben in der Küche experimentiert oder sonst etwas erforscht. Zwar weiß ich nicht, was genau wir während der langen Nachmittage dort oben unter dem Dach alles angestellt haben, aber es war jedenfalls immer spannend, wenn auch etwas befremdlich, weil anders. Denn entgegen den Gewohnheiten meiner Eltern, die uns bestenfalls gewähren ließen, tobten die G.s häufig selbst ausgelassen mit. Sie regten auch Spiele an, halfen bei der Verwirklichung unserer Pläne, mischten mit, sich aber nicht ein. Mit dem Abstand der Jahre denke ich, daß wir für die beiden so etwas wie der Teil eines pädagogischen Selbstversuchs waren. An uns konnten sie ausprobieren, was sie theoretisch immer wieder durchgespielt hatten: die Erziehung einer neuen, selbstbewußten, freien Generation.

Neben meiner Mutter haben auch meine Lehrerin Frau S., die Nachbarinnen Frau B. und Frau G. viel zu meiner Vorstellung vom Frauwerden beigetragen. Daß es etliche attraktive Varianten der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Rollen geben würde, ist mir als frühe Gewißheit erinnerlich. Daß meine Zustimmung (zu was immer!) eine notwendige Voraussetzung für partnerschaftliche Zweisamkeit ist, daß mein Bauch und meine Zukunft mir gehören – das alles wurde mir quasi am Gruppentisch einer geheimen feministischen Gemeinschaft beigebracht.

Während sich in den Metropolen die Visionen von 1968 endgültig im Sektierertum verloren hatten, setzten sich in der Provinz die emanzipatorischen Lektionen kontinuierlich fort: In der Frauengruppe fand ich Ende der Siebziger bewegungserprobte Mentorinnen, die mir mein lesbisches Coming-out mit vielen aufmunternden Gesten erleichterten. In der Oberschule traf mich mit Wucht die pädagogische Offensive der 68er: aufmüpfige Junglehrerinnen in lila Latzhosen, sanfte Pädagogen zum Duzen, Revoluzzer zum Ausprobieren. Als ich dann endlich mit Lesbenbutton und einem berstenden Selbstbewußtsein zum ersten Mal das nächstgelegene Frauenzentrum betrat, war ich fast enttäuscht. Die Parolen an den Wänden (Frauenpower! Nieder mit dem Männlichkeitswahn!) erschienen mir irgendwie erledigt, abgearbeitet. Noch später, an der Uni, dann das Proseminar zum Thema „Frauen und Film“. Wie die Frauenbewegung an einem Schöneberger Küchentisch ins Rollen kam, warum eine weiche Tomate am Anfang der Frauenbefreiung stand, erfuhr ich erst durch Helke Sanders Film „Der subjektive Faktor“. Es war für mich bis dahin nicht wichtig gewesen.

Sicher folgte dem selbstgewissen Aufbruch dann doch noch so manche Niederlage. Da entpuppte sich der sanfte Kommilitone im Filmseminar doch wieder als selbstverliebter Theoriehengst, und es stellte sich heraus, daß der vielbeschworene weibliche Blick gelegentlich auch nur ein unkonzentrierter (weil vom alternativen Strickzeug absorbierter) war. Aber die Richtung war klar: Es sollte nach vorn gehen. Noch besser: nach oben.

Während objektiv die Chancen meiner Generation immer schlechter wurden (es fehlte an Ausbildungsplätzen, an Wohnungen, an Utopien), nahm der Erwartungsdruck, als emanzipierte Frau „etwas aus sich zu machen“, kontinuierlich zu.

Als meine Schulfreundin F. sich vor fünf Jahren entschloß, die hart erkämpfte (und gut dotierte) Abteilungsleiterinnenstelle aufzugeben, weil das zweite Kind unterwegs war, unterbreitete sie mir das mit niedergeschlagenen Augen – als habe sich eine gläubige Katholikin zur Abtreibung durchgerungen. Selbstverständlich werde sie den beruflichen Anschluß nicht verpassen, versicherte sie mir, und gründete wie zum Beweis eine Elterninitiativ-Kita. Daß sie heute mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern (vier und acht) am Stadtrand wohnt und sich auf die Asphaltierung ihres Neubauviertels freut, verunsichert sie immer noch. Zumal sie zu allem Unglück auch noch glücklich ist.

Offenbar steht uns seit 1968 die Welt offen – nur das kleine Glück am Stadtrand nicht.