Ein Blick auf andere Kulturen

■ Drei Kontinente, drei unterschiedliche Sichtweisen auf Behinderte

Die kleine Sofia erzählt ihre Erinnerungen, weil sie niemals vergessen werden dürfen. Mitten in ihr schönes Leben, in einem kleinen Dorf in Mosambik, platzen Banditen wie Monster und töten alles. Dabei sterben ihr Vater und fast die ganze Familie. Sofia, ihre Schwester Maria und ihr kleiner Bruder flüchten mit der Mutter, ohne zu wissen, wohin. Schließlich bleiben sie in einem Dorf, das nur von Flüchtlingen bewohnt wird.

Vom letzten Krieg liegen noch Minen im Boden. Jedes Abweichen von den Wegen ist verboten. Was sind dagegen die Krokodile im Fluß! Es gibt einen Priester und eine Schule. Sofia und Maria sind glücklich, daß sie nach der Feldarbeit in die Schule dürfen. Weil sie keinen Vater haben, ist die Familie sehr arm. Trotzdem, sie haben ein Zuhause. Es ist nicht mehr wie früher, aber man kann leben.

Das ändert sich mit der Minenexplosion. Maria stirbt, Sofia überlebt ohne Unterschenkel. Sie ist tapfer, kämpft sich durch Schmerzen, Trauer und Heimweh. Sie lernt laufen mit künstlichen Beinen. Als sie endlich wieder nach Hause kann, hat ihre erschöpfte Mutter einen wenig sympathischen Mann zum Partner genommen. Er verspottet Sofias künstliche Beine. Sofia macht keine Kompromisse. Unter großen Strapazen, mit Krücken und künstlichen Beinen humpelt sie tagelang in die Stadt und kehrt ins Krankenhaus zurück. Es wird ihr geholfen. Sie lernt nähen, und kaum 13jährig kehrt sie als Näherin in ihr Dorf zurück. Nun zündet sie abends ihr eigenes Feuer vor ihrer eigenen Hütte an, und in den Flammen sieht sie die vollständige Familie, alle sind gekommen, die Lebenden und die Toten. Ein trauriges Buch, das niemals resigniert. Die Hoffnung ist immer mit im Gepäck.

Henning Mankell: „Das Geheimnis des Feuers“. Ab 12, Oetinger, 19,80 DM Peter Huth

Zeit der großen Prüfung

Es ist die Zeit der großen Prüfung. Alle Indianerjungen müssen beweisen, wie gut sie mit Pfeil und Bogen umgehen können. Für den sehbehinderten Jungen Walnuß ein unlösbare Aufgabe. Jeden Morgen geht er mit seiner Mutter in den Wald üben.

Sie wirft Moosbüschel in die Luft, und er muß danach zielen. Doch er sieht weder das Moos noch die Mutter. Die Welt ist für ihn ein kleiner enger Raum, nicht größer als ein ausgestreckter Arm. Er hat keine Chance, die Prüfung zu bestehen. Er wird keinen Erwachsenennamen bekommen.

Die Mutter packt den Bogen weg. Statt zu üben, was er nicht kann, übt sie mit ihm hören und riechen. Am Prüfungstag fühlt er sich sehr überflüssig, doch die Rede der Häuptlingsfrau wischt alle Angst weg. Jagen, pflanzen, ernten sind wichtig, doch manchmal braucht man jemanden mit der Fähigkeit, etwas zu sehen, das man nicht sehen kann.

Wer diese Prüfung besteht, braucht nicht zu schießen. So wurde aus Walnuß „Der hinter Bäume sieht“, und er war in der Folge ein gefragter Mann, der schon früher als seine Freunde spannende Abenteuer zu bestehen hatte.

Michael Dorris: „Der hinter Bäume sieht“, Ab 11, Ravensburger, 24,80 DM

Die Kräfte der Phantasie

Der Dichter Brasilianer Graciliano Ramos, hat am eigenen Leib erfahren, daß anders auszusehen als die anderen oft auch das Anderswerden bedingt. Weil Kinder seinen Buckel verspotteten, weil seine Eltern arm waren, weil er fünfzehn Geschwister hatte, kapselte er sich ab, lernte langsamer als die anderen. 1930, als er schon ein großer Dichter war, schrieb er das Märchen „Raimundo im Land Tatipirun“. Weil Raimundo es nicht aushält, wegen seines Aussehens immerzu verspottet zu werden, flüchtet er ins Land der Phantasie. Dort sehen alle so aus wie er. Und doch unterscheidet sich auch hier einer vom anderen. Ihre Diskussionen sind verblüffend. Warum soll es nicht Menschen geben mit einem Bein und dafür zwei Köpfen oder vier Armen? Jeder findet was anderes schön. Raimondo fühlt sich sehr wohl in dieser Welt. Dennoch geht er zurück. Er weiß jetzt, daß nicht alle aussehen müssen wie er, um sich wohl zu fühlen. Wichtiger ist, sich selbst zu akzeptieren. So gerüstet, kann er anfangen, seinen Platz in der Welt zu behaupten.

Graciliano Ramos: „Raimundo im Land Tatipirun“. Ab 8, Nagel & Kimche, 19,80 DM