Gewerkschaften ohne Gefolgschaft

In Rußland gelingt es trotz wachsender wirtschaftlicher Probleme nicht, die zornigen Werktätigen auf die Straße zu bringen. In den Betrieben jedoch werden einzelne Aktionen immer radikaler  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Mittlerweile ist es schon ein Ritual. Mit Frühlingsbeginn ruft die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Rußlands (FUGR) Arbeiter und Angestellte zu landesweiten Protestaktionen auf die Straßen. Staat und private Unternehmer schulden ihren Arbeitnehmern nach offiziellen Schätzungen in diesem Jahr 18 Milliarden Mark an Lohnrückständen. Grund genug für die Gewerkschaftsführung, sich am Vorabend der Demonstrationen noch in Zuversicht zu wiegen. 20 Millionen zornige Werktätige, prognostizierte sie, würden am Donnerstag zwischen St. Petersburg und Wladiwostok an den Kampfmaßnahmen der FUGR teilnehmen.

Am Ende waren es erheblich weniger – etwa eine Million. Nur in St. Petersburg sammelte sich eine beeindruckende Menge von 50.000 Arbeitern vornehmlich aus Betrieben des notleidenden militärisch- industriellen Komplexes. Ein ähnliches Bild bot sich im Kusbass, der südsibirischen Kohleregion, wo 60.000 Kumpel ihrer Unzufriedenheit Luft machten.

Diese mangelnde Mobilisierung zeigte, daß es der Gewerkschaft in den zurückliegenden Jahren nicht gelungen ist, die Werktätigen hinter sich zu sammeln. Lediglich zwei Millionen Arbeiter sind in den freien Gewerkschaften organisiert. Einerseits beruht das Mißtrauen der Werktätigen gegenüber kollektiven Organisationsformen noch auf negativen Erfahrungen aus Sowjetzeiten, als die Gewerkschaften Transmissionsriemen und Vollstrecker des Parteiwillens darstellten. Doch das erklärt nicht mehr hinreichend, warum sich Arbeiter heute nicht entschiedener für ihre Rechte einsetzen. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl der Demonstranten noch einmal um die Hälfte. An den Rändern jedoch wächst die Bereitschaft, radikalere Maßnahmen zu ergreifen. Eisenbahnlinien werden blockiert und in Einzelfällen wurden auch schon mal Fabrikdirektoren als Geiseln genommen.

Gewerkschaft und Regierung fehlt es an einer Strategie. Zudem wirkt sich die persönliche Nähe zwischen der politischen Führung und Gewerkschaftsbossen negativ auf die Kampfbereitschaft der Funktionäre aus. Gewerkschaftschef Michail Schmakow ist beispielsweise im Gespräch, einen Ministerposten im neuen Kabinett zu bekleiden. Auf der Kundgebung am Donnerstag bemühte er sich denn auch, den politischen Charakter der Demonstrationen herunterzuspielen.

Natürlich befürchten die Gewerkschafter, eine härtere Gangart gegenüber dem Staat könnte die Regierung ermuntern, einmal getroffene Eigentumsentscheidungen rückgängig zu machen. Die unabhängigen Gewerkschaften erbten 1991 Immobilien in Millionenhöhe von ihren sowjetischen Vorgängern, wobei der Handel nicht immer transparent verlief.

In der russischen Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, vornehmlich Staatsbedienstete, Lehrer und Wissenschaftler seien von den Lohnrückständen am ärgsten betroffen. Das entspricht indes nicht der Wahrheit. Lediglich ein Zehntel aller Schulden gehen auf das Konto des Staates. Mittlerweile zählen die Privatunternehmen zu den Hauptschuldnern. Hinzu kommt: Unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Prosperität halten Unternehmen Löhne zurück, besonders im Bergbau, dem Agrarsektor und Maschinenbau. Über Lohnrückstände versucht das Management, sich von der Steuerlast zu befreien. Darüber hinaus gesteht die Gesetzeslage Firmen Steuervergünstigungen zu, die sich nach Zahl ihrer Mitarbeiter berechnen: Je mehr Angestellte, desto weniger Abgaben an den Fiskus. Daher behalten Unternehmen trotz schlechter Auftragslage ihre Arbeiter auf der Lohnliste, zahlen aber unregelmäßig. Der Staat hat Interesse daran, die offizielle Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, während sich die Unternehmen darüber freuen, Abgaben zu sparen. Und selbst die Arbeitnehmer ziehen es vor, nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden, ungeachtet dessen, ob sie ihre Löhne erhalten. Hieraus erklärt sich ihre mangelnde Kampfbereitschaft. Die Gewerkschaften haben es bisher unterlassen, den strukturellen Mißstand ihrer Mitgliedern zu erklären. Sie schweigen sich aus, denn auch sie sind ein Teil des unfertigen Systems, das einschneidende Maßnahmen auf die lange Bank schiebt.