: „Jugendbanden haben etwas Gutes“
■ Wenn die wachsende Gewalt unter Jugendlichen wirksam bekämpft werden soll, haben zuerst Erwachsene viel zu lernen, glaubt der Bremer Psychologie-Professor Thomas Leithäuser
ie Forscher der Bremer Akademie für Arbeit und Politik an der Universität nehmen mit dem Projekt „Sicherheit im öffentlichen Raum“den Ortsteil „Walle und umzu“derzeit genauer unter die Lupe. Anlaß einer qualitativen Studie sind u.a. Medienberichte, wonach Angst vor Gewalt stärker wächst als tatsächliche Übergriffe. Vor allem aber soll die Studie helfen, Antworten auf veränderte und wachsende Gewalt unter Jugendlichen zu finden. Denn daß die Jugendlichen von heute brutaler sind als die von früher, daran gibt es für Projektleiter Thomas Leithäuser, Professor für Psychologie, keinen Zweifel.
taz: Wie sehen Sie Gewalt unter Jugendlichen?
Thomas Leithäuser: Die Beziehungskultur unter Jugendlichen hat sich sehr stark verändert. Dagegen wollen wir etwas im Sinne der zivilen Gesellschaft tun – und nicht im Sinne einer verstärkten Polizeipräsenz oder Selbstbewaffnung, die Gewalt eher eskalieren.
Was lernen Sie bei den Gesprächen im Stadtteil?
Wir sprechen mit ganz verschiedenen Gruppen; mit Alten, die sich als potentielle Opfer sehen, mit Kaufleuten oder Schülerinnen – getrennt von Schülern. Wenn man bei letzteren genauer hinsieht, sind die Erfahrungen aber doch nicht weit auseinander. Mädchen haben ihre Haltung entschieden geändert, wehren sich, schlagen und organisieren sich – auch als Täterinnen. In den Schülergruppen, mit denen wir sprechen, berichtet fast jeder über Gewalterfahrungen, was bestätigt, daß Gewalt zunimmt. Es ist klar, womit das zusammenhängt: Mit hoher Arbeitslosigkeit und dem Erlebnis, keine Chancen zu haben oder sie nicht zu sehen. Dabei war ich überrascht, wie offen SchülerInnen über Gewalterfahrungen berichten – und zwar auch als TäterInnen. Zugenommen hat die Brutalität. Das Zutreten, wenn einer schon am Boden liegt. Mit Erpressung, dem „Abziehen“, haben fast alle Erfahrung. Da wird berichtet, daß Jugendliche andere zwingen, ihnen bei Aldi Zigaretten „zu besorgen“. Gekauft oder geklaut, bleibt den Opfern überlassen. Interessant ist, daß Jugendliche untereinander sehr offen darüber reden und das teilweise gar nicht so ernst nehmen; da bekommt Gewalt eine spielerische Seite. In Cliquen stehen Mitglieder füreinander ein – da gibt es Solidarität. Meist werden Einzelgänger „abgezogen“. Deshalb fühlt man sich am sichersten, wenn man zu einer Clique gehört. Aber meine These ist, daß es zunehmend schwerer wird, Gruppen zu finden, denen sie sich anschließen können. Das hat vielleicht auch mit dem Verlust von Klassenverbänden zu tun.
Wir denken darüber nach, Gruppenbildung zu unterstützen; so gesehen haben Jugenbanden etwas Gutes.
Ist Opfer-Sein eine Phase?
Das ist sehr verschieden. In den meisten Fällen reden die Kinder darüber nicht – auch nicht mit den Eltern. Sie fürchten, daß die Eltern das hochhängen, während sie selbst die Folgen in der Schule ausbaden müssen. Aus meiner Sicht steckt aber mehr dahinter. Es ist ja die Phase der Pubertät und der Adoleszenz, in der das besonders auftaucht, wobei Lehrer berichten, daß Mädchen sich nach einer Gewaltphase leichter wieder integrieren. Darüber werden wir nachdenken, denn wir wollen der Frage nachgehen, wie man den Alltag zwischen Beziehungsgruppen so verändern kann, daß es vergleichsweise human zugeht.
Womit erklären Sie die Verrohung?
Darauf haben wir noch keine Antwort.
Gibt es denn geeignete Hilfen für Opfer?
Kaum, denn gerade in der Pubertät gehört es zum Stolz der Jugendlichen, Probleme unabhängig von den Eltern zu lösen. Zu erzählen, was passiert ist, wird als Niederlage erlebt, weil es beweist, daß man die Probleme, die auf einen zukommen, offenbar nicht angemessen lösen kann – daß man zu den Schwachen gehört, nicht zu den Starken. Das ist eine Kränkung.
Wie sind diese Cliquen ethnisch organisiert?
Die Gruppen, die wir bislang getroffen haben, sind bunt gemischt, mit türkischen, deutschen, libanesischen und polnischen Jugendlichen, die alle zu einer Gruppe gehören. Es ist faszinierend, wie sie untereinander das Vorurteil „Ausländer“nicht haben. Man muß auch das Positive dieser Gruppen sehen.
Wie bewerten die Kinder die Intervention durch Polizei?
Als weitgehend sinnlos. Sie wissen, daß die Polizei erst eingreifen kann, wenn wirklich etwas passiert ist. Das ist dasselbe Problem wie mit den Eltern; der Polizei etwas zu verraten, löst ja geradezu eine Lawine aus, bei der man als Opfer gewissermaßen vorgeführt wird – und wer möchte das?
Das heißt, die Erwachsenen machen Fehler. Welche?
Sicherlich, daß derartige Probleme als Einzelfall gelöst werden, indem man immer in Täter und Opfer unterteilt. Häufig haben wir es mit Opfern zu tun, die andernorts Täter sind. Die Jugendlichen wissen das und empfinden deshalb nicht alles, was geschieht, als Unrecht. Deshalb entwickeln sich hier leider stark gewaltförmige Kulturen mit einer anderen Moral.
Wie verhalten sich die Schulen?
Die reagieren eher erst, wenn der Fall klar ist. Es gibt durchaus Lehrer – wie Eltern und andere Erwachsene – die gerne wegsehen. Aber viele Lehrer fühlen sich ohnmächtig und wünschen sich Schule als gewaltfreien Raum. Hier ist zu überlegen, wie man Gewaltförmigkeit in Schulen auf zivile Weise zurückdrängen kann. In der Psychologie sieht man dort Erleichterung, wo sich Gruppen bilden können. Vielleicht muß man gemeinsame Wege finden, etwa in Gruppen von Lehrern, anonymen Opfern, was auch immer. Rezepte wird es nie geben, aber man muß einen Dialog führen – und zwar auch mit Gruppen, die gewaltförmig auftreten. Wichtig ist, daß sie sich anerkannt fühlen, denn ein Auslöser von Gewalt ist Nicht-Anerkennung, gerade unter Jugendlichen, die mitten im Prozeß der Identitätsfindung sind. Sie müssen einen Gewinn aus diesem Dialog ziehen können.
Das klingt, als wenn Täter auch noch etwas davon haben sollen. Sowas war in der Jugendarbeit bislang umstritten, wenn auffällige Jungen Unterstützung bekamen, während Mädchen – oft Opfer blöder Anmache – nichts davon hatten.
Sicher ist das ambivalent. Aber Jugendliche sollen Vorteile darin sehen, nicht Täter zu sein. Es müßte im psychologischen Sinn nachteilig sein, brutal zu werden – weil sonst Anerkennung entzogen wird. Solange ich Täter bin und auch noch einen sekundären Gewinn davon habe, daß mich die ganze Gruppe als Opfer unterstützt, geht das natürlich nicht. Aber wir wollen ja nun nicht Walle oder Gröpelingen retten, sondern zeigen, daß es sinnvollere Wege gibt als alles clean zu machen. Die Probleme lösen und nicht unterdrücken – das ist das Ziel. Fragen: Eva Rhode
*siehe taz vom 6.4.
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