Geschichten aus Israel

Von der „Sandwichgeneration“ zu den „Irren von Zion“ und dem kritischen Blick auf den heutigen Staat: Erinnerungen und Reportagen zum 50. Jahrestag  ■ Von Beate Seel

Hier sieht man nichts vom heiligen Lande, vom Lande der Väter, nichts von den Kämpfen, die z.B. auch hier vor 2.000 Jahren waren – nichts sieht man hier von einer alten, jahrtausendlangen Geschichte. Aber etwas anderes sieht man hier, etwas Neues, einen neuen Anfang einer neuen Geschichte – man sieht das junge jüdische Land im Aufbau, man sieht den jüdischen Arbeiter, man sieht, wie aus einer Steinwüste fruchtbares Land geworden ist.“

Ernst Loewy ist 16 Jahre alt, als er, ein bißchen enttäuscht und ein bißchen schwärmerisch, im Mai 1936 diese Zeilen an seine Eltern in Krefeld schreibt. Seit vier Wochen lebt er im Kibbuz Kirjat Anavim bei Jerusalem im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, von Vater und Mutter aus Nazi- Deutschland vorgeschickt, in der Hoffnung, daß ihr Sohn sie „anfordern“ kann, sobald er eine zweijährige Ausbildung im Kibbuz beendet hat und auf eigenen Füßen steht.

Er ist zu einem jungen Mann herangewachsen, der sich von seinem Elternhaus und seiner neuen Umgebung emanzipiert hat, als Vater und Mutter am 21. November 1938 mit einem Touristenvisum in Tel Aviv eintreffen. In seinem letzten Brief nach Krefeld gibt er seinen Eltern zu bedenken, daß sie bei ihrer Ankunft nicht mehr „das kleine Ernstchen“ wiederfinden werden, sondern „einen erwachsenen Menschen“. Loewys Buch „Jugend in Palästina. Briefe an die Eltern 1935–1938“ schildert den zweieinhalbjährigen Prozeß seiner Entwicklung.

Der Band sticht aus der Reihe der „Erinnerungsbücher“ heraus, weil er nicht aus der Rückschau des Alters auf die frühen Jahre geschrieben ist, sondern unmittelbar und fast tagebuchartig das Erlebte beschreibt. Der junge Ernst ist ein aufgeweckter und literarisch sehr interessierter Mensch, der die Einflüsse seiner neuen Umgebung aufnimmt, prüft, und wieder verwirft, wenn er zu dem Schluß kommt, daß sie ihm persönlich nicht liegen.

So verabschiedet er sich vom „Gott des alten Israel“, auch wenn er kurz nach seiner Ankunft noch ganz im Sinne der religiösen Zionisten schreibt, er glaube nicht daran, daß das Land ohne die Thora aufgebaut werden könne, und sich maßlos enttäuscht über die Unfrömmingkeit im Kibbuz äußert. Und trotz der anfänglichen Idealisierung der Arbeiter und Bauern wird ihm schnell klar, daß der Kibbuz keine für ihn angemessene Lebensform ist. Er fühlt sich nicht als Arbeiter, bemängelt das geringe „geistige Interesse“ seiner Genossen und die Einschränkungen in der persönlichen Freiheit. Kurz, Loewy ist einer, der sich durchkämpft und seinen Weg findet. Schließlich beginnt er eine Lehre als Buchhändler in Tel Aviv.

Als sich seine Eltern angesichts der „Unruhen“ in Palästina um seine Sicherheit sorgen, findet er zunächst immer wieder beruhigende Worte, bis auch Mitglieder seines Kibbuz getötet werden. Es sind die Jahre des arabischen Aufstandes gegen die britische Kolonialherrschaft und die jüdische Besiedlung des Landes. Kontakte zur arabischen Bevölkerung hat Loewy nicht. Für ihn sind die Araber „zum größten Teil noch Halbwilde“. An anderer Stelle notiert er bedauernd über die zwei Völker in einem Land: „Ich glaube, daß eine gemeinsame Herrschaft leider nicht möglich sein wird“ (Hervorhebung des Autors).

Wenn man Loewys Briefe heute liest, mag es befremden, wie er über seinen Alltag in Palästina nach Hause berichtet, obwohl der Holocaust schon seine Schatten über Europa vorauswarf. So schildert er im November 1936 zwei Ausflüge nach Tel Aviv und Jerusalem: „Tel Aviv ist Geschäft, Verkehr, Mode und Strand – der Geist hat sich vor alldem nach Jerusalem geflüchtet, nur ein kleiner Rest ist davon noch in Tel Aviv geblieben.“ Doch es ist mitnichten der Geist der heiligen Stadt, was ihn an Jerusalem reizt, sondern eine Aufführung des „Kaufmanns von Venedig“.

Seinen Eltern rät er zunächst angesichts des kargen Lebens in Palästina, der Sprachprobleme und der fehlenden Möglichkeiten für einen beruflichen Neuanfang von einer Ausreise ab, wiewohl er ihnen auch gelegentlich „Fernunterricht“ erteilt und ihnen Empfehlungen zur Lektüre gibt. Vermutlich der Zensur des Briefverkehrs geschuldet, scheint sich der junge Loewy nur ein lückenhaftes Bild der Vorgänge in Nazi-Deutschland machen zu können. Doch als der Ton der Briefe seiner Eltern immer dringlicher wird, setzt er sich mit seiner ganzen Energie dafür ein, ihnen die Einreise zu ermöglichen. Diese jungen Einwanderer wurden später die „Sandwichgeneration“ genannt: zunächst unterstützten sie ihre Eltern finanziell, sofern es diesen gelang, dem Holocaust zu entkommen, und zogen dann ihre eigenen Kinder groß. Loewy selbst kehrte 1957 mit seiner Familie nach Deutschland zurück.

Auch die aus Bonn stammende Ruth Zucker wanderte als junge Frau in Palästina ein. Im Alter von 20, illegal, folgte sie ihrem Mann, einem Kieferchirurgen, nach Haifa. Das Paar teilte die Probleme zahlreicher Einwanderer, das fremde Land, die unbekannte Sprache, die Suche nach Arbeit, die beengten Wohnverhältnisse, die Sorge ums Geld, zumal bald ein Sohn da ist. Es ist die Zeit, in der die gesellschaftliche Pyramide auf den Kopf gestellt wird: Arbeiter sind gefragt, aber nicht Ärzte und Anwälte.

Vor diesem persönlichen Hintergrund beschreibt Zucker in ihrem Buch „Im Auftrag für Israel – Meine Jahre als Spionin“ ihre elfjährige Tätigkeit für die zivile Abteilung der jüdischen Untergrundorganisation Haganah, aus der später der israelische Geheimdienst Mossad und die Armee hervorgingen. Die Aufgabe dieser Abteilung war die Infiltrierung der britischen Mandatsverwaltung sowie anderer relevanter Machtzentren. Das einfach geschriebene Buch ist im Stil eines Erlebnisberichts gehalten, Episode reiht sich an Episode, bis man bei der Lektüre plötzlich über eine bemerkenswerte Passage stolpert.

Zucker war damals unter anderem für das Telegraphenamt der Briten tätig, die Schaltstelle für die Übermittlung der Einwandererzertifikate, deren Zahl nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf ein Minimum gedrosselt wurde. Diese lebenswichtige Mitteilung wurde per Telegramm nach Europa übermittelt. Zucker beschreibt nun, wie sie die britischen Zensurvorschriften, zum Beispiel, daß jedes Telegramm, in dem das Wort „Zertifikat“ vorkam, erst einmal zu den Akten gelegt werden sollte, an die Haganah weitergibt, die ihrerseits die Information weiterreicht, so daß bald nur noch Telegramme zur Übermittlung abgegeben werden, die den Begriff nicht mehr enthalten und somit nicht unter die bestehende Order fallen.

Anders als Loewy hat Zucker in ihrer Funktion auch mit Arabern zu tun. In dem Vorwort zu ihrem Buch dankt sie drei Arabern, die ihr in unterschiedlichen Situationen das Leben gerettet haben. Einer war ein Freund von ihr, die anderen kennt sie nicht einmal mit Namen. „Die Güte ihres Herzens war bei beiden stärker als die Angst vor dem Tod“, schreibt Zucker.

Aus einer völlig anderen Perspektive ist die Autobiographie von David Ben Gurion, des ersten Ministerpräsidenten Israels, geschrieben. Ben Gurions Buch ist in Israel 1969 veröffentlicht worden und in Deutschland 1973. Nun hat der Verlag die drei Kapitel über die Staatsgründung neu als Taschenbuch herausgegeben. Im Zentrum seiner Erinnerungen steht die Auseinandersetzung mit den Arabern und schließlich der 48er Krieg sowie der Versuch, jüdische Terrorgruppen wie Irgun oder Stern unter die Kontrolle der Armee zu zwingen. Tagebuchauszüge über Eroberungen und Rückschläge verleihen dem Buch zusätzliche Spannung. Aus dieser Zeit und Perspektive gesehen, sind für Ben Gurion die Araber „der Feind“.

Anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung Israels sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich auf persönliche Erlebnisse als Zeitzeugen beziehen. Von anderen, Gesamtdarstellungen der Geschichte Israels, soll an dieser Stelle nicht die Rede sein (siehe dazu auch das taz-mag vom 25. April). Zu Wort kommen vor allem Einwanderer aus dem deutschen Sprach- und Kulturkreis, die sogenannten Jeckes (von Jacke, Jackett), die häufig wegen ihrer „deutschen Tugenden“ wie Pünktlichkeit und Ordnungsliebe aufgezogen wurden.

Zu diesen Büchern zählen „Lebensgeschichten aus Israel“, herausgegeben von Ingrid Wiltmann, das zwölf Interviews von Jüdinnen und Juden umfaßt, die zwischen 1920 und 1990 eingewandert sind, oder der jetzt in der dritten Auflage vorliegende Band „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“ von Anne Betten und Miryam Du- nour, die insgesamt 150 Gespräche geführt haben. Hier wird der Bogen geschlagen von der Kindheit und Jugend in Deutschland über die ersten Jahren in Palästina bis zum heutigen Leben in einem modernen Staat, in dem es auch Diebe und Mörder gibt.

Und immer wieder geht es um die Sprache, die mitgebrachte Kultur und das Verhältnis zu Deutschland, zu dem viele der Gesprächspartner, meist eher später als früher, doch wieder Kontakt aufnehmen, wenn sich eine Gelegenheit bietet – oft zuerst sehr widerwillig. Hier fügt sich auch das Buch „Mein Israel“, herausgegeben von Micha Brumlik, ein, das 21 „erbetene Interventionen“ aus Deutschland, Israel und der jüdischen Diaspora enthält.

In einigen Beiträgen bei Wiltmann oder Brumlik, die im Unterschied zu Betten/De-nour auch die Bewertung der heutigen israelischen Politik mit einbeziehen, erwähnen Befragte oder Autoren, welchen Bruch das Jahr 1967 für sie bedeutet hat. Damals, im Sechs- tagekrieg, eroberte die israelische Armee unter anderem das Westjordanland und den Gazastreifen. Israel wurde zur Besatzungsmacht. Der 1964 nach Israel eingewanderte Jakob Hessing, heute Professor für deutsche Literatur und Publizist, beschreibt in dem Wiltmann-Band sein ambivalentes Verhältnis zu diesem „Wendepunkt“ seines Lebens: „In der kollektiven Identität, die uns dieser Krieg hat gewinnen lassen, waren zugleich die Keime angelegt, die diese Identität jetzt zu zerstören drohen: Mit dem Juni-Krieg des Jahres 1967 hat sich Israel auf eine Weise verändert, die es von meinen früheren Erfahrungen in diesem Land unüberbrückbar entfernt.“ Bei zahlreichen, zum Teil jüngeren Autoren, nimmt das Thema der Besatzung, der Folgen für die israelische Gesellschaft („Die Okkupation korrumpiert“, so Mosche Zuckermann bei Brumlik), der Siedlungspolitik und des Verhältnisses zu den Palästinensern zunehmend Raum ein.

Charakteristisch für diese Sichtweise ist das Buch des israelischen Journalisten Amos Elon, Jahrgang 1926 „Nachrichten aus Jerusalem“, das persönlich gehaltene Reportagen aus drei Jahrzehnten umfaßt. Es beginnt mit dem Jahr 1967. „Nach dem Sechstagekrieg wurde der säkulare, in der liberalen europäischen Tradition stehende Charakter des Zionismus als Befreiungsbewegung von aufgeputschten Nationalisten und religiösen Fundamentalisten in Israel erstmals massiv in Frage gestellt“, schreibt er 1996 im Vorwort und bestimmt damit zugleich seine politische Position im gegenwärtigen Konflikt zwischen weltlichen und orthodoxen Israelis.

Ganz gleich, ob er seine erste Reise nach Ägypten schildert oder einen Besuch bei PLO-Chef Jassir Arafat in Tunis, Elon zeichnet ein lebendiges Bild von Menschen in ihrer Umgebung und trägt so zum Verständnis des nahöstlichen Puzzles bei. Das letzte Kapitel unter der Überschrift „Die Dämonen des Judentums“ endet mit dem Mord an dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin, der von einem religiösen jüdischen Fanatiker umgebracht wurde.

Von den Dämonen ist es nicht weit zu den Besessenen: „Die Irren von Zion“ lautet der Titel des neuen Buches von Henryk M. Broder, Jahrgang 1946. Mit den „Irren“ sind unter anderem jene gemeint, für die Gott den Ton angibt. Hier treten Personen auf wie der intellektuelle Kopf der Siedlerbewegung, Eljakim Haetzni, der in einer Analogie zu den Nürnberger Prozessen Rabin und Peres als „Friedensverbrecher“ bezeichnet; Menschen wie June Leavitt, die heute mit ihrer Familie in der Siedlung Kirjat Arba bei Hebron im Westjordanland lebt und deren Mann auf der Suche nach einer spirituellen Heimat einst im fernen New York eine Münze geworfen hat, um sich zwischen Christentum und Judentum zu entscheiden; es geht um selbsternannte messianische Weltverbesserer, die nach ihren provokativen Aktionen im Heiligen Land wieder ins Flugzeug nach Hause steigen, und auch um die wohlmeindenden Menschen, die alle möglichen Initiativen ins Leben rufen oder für die UNO-Institutionen arbeiten und alle nur „das Eine“ wollen, nämlich Frieden.

Broder erzählt Geschichten, pointiert und bissig, von den Begegnungen mit seinen Gesprächspartnern ebenso wie aus dem Alltag des Lebens in Israel. Er beschreibt zwei „hysterische Kollektive“, ein palästinensisches und ein israelisches, für die der Nahost- Konflikt ein Joint-venture ist, mit dem beide Seiten prächtig leben können. Sie verwandeln das Land in „ein Irrenhaus, inmitten eines Abenteuerspielplatzes, auf dem mit scharfer Munition geschossen wird“.

Bis Gott eines Tages das Theater auf Erden zuviel wird. Er bestellt Clinton, Jelzin und Netanjahu ein. „,Ich mag mir das Jammerspiel da unten nicht mehr mit ansehen‘, wird Gott sagen, ,ich werde die Welt vernichten. Geht heim und verkündet meine Botschaft‘! Clinton rast sofort ins nächste TV-Studio und hält eine Rede. ,Meine lieben Amerikaner, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Es gibt einen Gott, und er wird die Welt vernichten.‘ Jelzin ruft die Duma zu einer Sondersitzung zusammen. ,Ich habe zwei schlechte Nachrichten. Gott lebt, und er wird die Welt zerstören.‘ Netanjahu ruft gleich seine Frau Sarah an. ,Surele!‘ schreit er in sein Handy, ,es gibt zwei gute Nachrichten: Ich habe Gott getroffen, und er hat mir versprochen, es wird keinen Palästinenserstaat geben.‘“

Aus Israel gibt es viele Geschichten zu erzählen, viele interessante, ist man versucht hinzuzufügen, wäre da nicht der Kontext von Holocaust und Emigration, von Kriegen und Anschlägen. James Springer, geboren 1907, eingewandert nach Palästina 1936, sagt bei Betten/Du-nour in einer Rückschau auf sein Leben: „Es war vielleicht ein sehr interessantes Leben, aber ich hätte auf vieles Interessante sehr, sehr leicht verzichten können“.

„Ernst Loewy. Jugend in Palästina“. Hrsg. von Brita Eckert, Metropol 1997, 34 DM

Ruth Zucker: „Im Auftrag für Israel“. DTV 1998, 17,90 DM

David Ben Gurion: „Israel“. Aus dem Hebräischen von Moshe Tavor, Fischer Taschenbuch 1998, 16,90DM

„Lebensgeschichten aus Israel“. Hrsg. von Ingrid Wiltmann, Suhrkamp 1998, 14,80 DM

Anne Betten, Miryam Du-nour: „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“. Bleicher Verlag 1998, 49,80 DM

„Mein Israel“. Hrsg. von Micha Brumlik, Fischer Taschebuch 1998, 16,90 DM

Amos Elon: „Nachrichten aus Jerusalem“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Fischer Taschenbuch 1998, 18,90 DM

Henryk M. Broder: „Die Irren von Zion“. Hoffmann und Campe 1998, 39,80 DM