Große Improvisation

■ Die Herren Lion und Wolff - der Dokumentarfilm "Blue Note. A Story of Modern Jazz" erinnert an die Gründer des legendären Plattenlabels

Die Typen konnten sich nicht bewegen, aber sie hatten den Groove. Das Gelächter ist groß, wenn die alten schwarzen Jazz- Musiker im Studio zusammensitzen und sich ihrer weißen Arbeitgeber erinnern. Sagt der eine: „Es war unglaublich komisch, der Takt kam auf zwei und vier, und sie hopsten begeistert auf eins und drei.“ Sagt ein anderer: „Aber sie erkannten sofort, ob etwas groovy war oder nicht.“

Much respect also für Alfred Lion und Frank Wolff, zwei emigrierte Juden aus Berlin, die 1939 in New York die wohl wichtigste Plattenfirma für schwarze Musik gründeten: Blue Note. Und wer die Geschichte dieser Plattenfirma erzählt, muß ganz viele Geschichten auf einmal erzählen. Zum Beispiel die von Thelonious Monk, den alle für einen Spinner hielten, bevor er 1941 von Blue Note unter Vertrag genommen wurde, um schließlich als Visionär des Bebop gefeiert zu werden. Oder die vom kleinen Herbie Hancock, der kaum 20 war, als ihn die Herren Lion und Wolff dazu aufforderten, doch mal schnell ein Album mit eigenen Kompositionen einzuspielen. Oder die einer kleinen Plattenfirma, die beinahe daran pleite gegangen wäre, daß Anfang der Fünfziger Vinyl in Albumformat auf den Markt kam, dann aber das neue Format dazu nutzte, eine neue, aufregende Covergestaltung einzuführen.

Doch welche Geschichte man auch erzählt, zum Schluß landet man immer wieder bei dieser: Zwei Menschen werden aus ihrer alten Heimat vertrieben und finden ihre neue in einer Musik, die immer auch von der Trauer über den Verlust der alten berichtet. Weshalb es auch gestattet sei, daß Julian Benedikt in seiner Musikdokumentation „Blue Note. A Story Of Modern Jazz“ einmal Bilder vom afrikanischen Busch mit denen von Viehwagons gegenschneidet, die ins KZ rollen. Ganz kurz nur, aber äußerst plakativ. Nein, eine Dokumentation im klassischen Sinne ist das Labelporträt, das der Maler, Musiker und Regisseur aus München abgeliefert hat, nicht geworden. Aber wie hätte das auch funktionieren sollen bei einem Sujet, in dem tiefer Schmerz und unendliches Glück gleichermaßen angelegt sind. Benedikt improvisiert, und er hat reichlich Material dazu. Zuerst einmal ist da natürlich die Musik – „Canteloupe Island“, „Round Midnight“, „Song For My Father“ und all die anderen Klassiker werden immer wieder angespielt, ausgeblendet, neu kontextualisiert. Die Interviews gehorchen der selben Dynamik. Zuerst sieht man nur redende Köpfe, etabliert werden die dazugehörigen Personen irgendwann im Laufe des Films – wie Musiker, die erst in der Mitte eines Stücks ihre Soli haben. Und natürlich gibt es hier wie im Jazz keine wirklich mißglückten Takes. Weshalb wirre Monologe oder hastige Versprecher der Interviewten im kraftvollen Impromptu der Bilder und Töne durchaus ihren Sinn entwickeln können. Alfred Lion und Frank Wolff, die sich gleichermaßen um Artwork und Musik kümmerten, wollten Blue Note immer als Gesamtkunstwerk verstanden wissen, und Benedikt übernimmt diese Idee. Zum Beispiel wenn er leger das Bildmaterial im Rhythmus des Bebop montiert oder wenn er ge- schmeidig mit der Kamera über die Fotos fährt, die Wolff im Studio oder auf Konzerten gemacht hat von all diesen rauchenden, träumenden, jublierenden Gestalten, deren coole Optik das Bild vom Jazz für die Allgemeinheit viel mehr geprägt hat als die Musik selbst. Denn auch darum ging es bei Blue Note immer: ums Verkaufen. Das ist ja nur legitim. Einer der klügsten Kommentare zum kommerziellen Aspekt kommt bezeichnenderweise vom jungen Basketball-Millionär Kareem Abdul Jabbar: „Weiße Amerikaner sahen Jazz nur als Bordellmusik, weil das der Ort war, wo sie ihn hörten.

Europäer, die frei von rassistischen Vorurteilen waren, erkannten hingegen die Kreativität in dieser Musik und schöpften sie wirtschaftlich aus.“ Hier wird ein Thema angekratzt, das in Benedikts ansonsten erstaunlicher Doku leider nicht ausgeführt wird: Klar, die Juden Wolff und Lion hatten den Blues und konnten den Blues der Schwarzen deshalb so gut verstehen und verkaufen. Aber warum mußten das zwei weiße Europäer tun, während es über Jahrzehnte keine einzige Plattenfirma gab, die von Afroamerikanern geführt wurde? Max Roach, der große Schlagzeuger und Bürgerrechtler, der zu diesem Thema eigentlich eine Menge zu sagen hat, kommt im Film leider nicht recht zu Wort. Denn in manchen Momenten verhindert die allumfassende Geste der Improvisation den Ansatz zur Analyse. Und der Jazz wird, was er niemals sein wollte: nur ein Sound. Christian Buß

„Blue Note. A Story of Modern Jazz“. Regie und Buch: Julian Benedikt, Deutschland 1997, 92 Min.